Rheinische Post Mettmann

Hartes Leben im Hungerwint­er 1946/47

- VON RALF GERAEDTS

Schlechte Ernten machten die Nahrung knapp. Zuteilunge­n reichten nicht aus. Der Überlebens­kampf ging bis aufs Blut..

HAAN Der Winter von vor 70 Jahren gilt als einer der härtesten des letzten Jahrhunder­ts. Nach der Missernte des zweiten Nachkriegs-Sommers wurden die spärlichen Lebensmitt­elrationen sogar noch gekürzt. „Wir haben gehungert“, bringt es Manfred Kohl (80) auf den Punkt. „Wir hatten ein bisschen Gemüse aus dem Garten. Geschnibbe­lte Bohnen, aber da fehlte der Speck drin.“

Der Verwaltung­sbericht der Stadt Haan nennt für die Zeit vom 1. September 1946 bis zum 1. Mai 1947 nicht nur nüchterne Zahlen: „Ganz besonders schwierig und besorgnise­rregend gestaltet sich die gesamte Ernährungs­lage.“Sie müsse als „für Menschen unwürdig bezeichnet werden“. Und: „Ganz gleich, ob es sich um Brot und Nährmittel oder Fleisch und Fett handelte, sämtliche Zuteilunge­n waren mengenmäßi­g gesehen katastroph­al.“Eigentlich hätten zwei Zentner Kartoffeln pro Person eingekelle­rt werden sollen. Die bereitsteh­ende Menge reichte indes nicht einmal für die Hälfte. Und das als Ersatz für die fehlenden Kartoffeln vorgesehen­e Maismehl wurde leider nicht geliefert. „Anstelle von 1 Kilogramm Kartoffeln gelangten Erbsen und zweimal 500 Gramm Brot zur Ausgabe.“Die Milchverso­rgung war in den Wintermona­ten ebenfalls äußerst schlecht. Die Bevölkerun­g erhielt zum Teil nur einmal in einer Periode ein achtel bis zu einem viertel Liter Ersatzmilc­h, verschiede­ntlich auch nur Trockenmil­chpulver. Bezugsabsc­hnitte auf Lebensmit- telkarten bedeuteten noch nicht, auch etwas zu essen zu haben. Manfred Kohl erzählt, seine Mutter habe ihn zu einem Bäcker in Wald geschickt, bei dem es Maisbrot gab. Am Laden angekommen, sah der Zehnjährig­e, dass gerade das letzte Brot ausgegeben wurde. Der Junge hörte, dass ein Bäcker in Ohligs noch Brot habe. Er stapfte durch den Schnee nach Ohligs – hatte aber auch dort Pech. Durchfrore­n und durchnässt kehrte er nach Hause zurück – und litt bald darauf an einer Lungenentz­ündung. Der Arzt freute sich und ließ sich mit selbstgeko­chtem Zuckerrübe­nkraut entlohnen.

Die schlechte Ernährung ließ die Krankenzah­len steigen. Der Verwaltung­sbericht spricht von 945 Attesten und schlüsselt die Krankheits­symptome auf: bei 468 Personen Unterernäh­rung, bei 5 Personen Hungerödem­e, bei 472 sonstige Krankheite­n. Inwieweit der Mangel Einfluss auf die Todesursac­hen nahm, scheint unklar. Der Historiker Dr. Reinhard Koll schreibt in „Haan – demokratis­cher Neubeginn“von 147 Todesfälle­n von Herbst 1946 bis Frühjahr 1947 – 26 starben an Kriegsfolg­en, 17 an Krebs, 9 an Lungenentz­ündung, 95 an anderen Krankheite­n.

Wie hart der Kampf ums Überleben sein konnte, beschreibt Gertrud Wenzel in einem Buch, in dem sie 20 Jahre nach der Auswanderu­ng nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Lebenserin­nerungen veröffentl­ichte. An das „Kartoffel-Stoppeln“hat sie grausamste Erinnerung­en. Nach- dem ein Bauer einen Kartoffels­chlag abgeerntet, ihn nochmals abgeeggt und Kartoffeln aufgelesen hatte, wurde das Feld zum Nachhacken freigegebe­n.

In Gertrud Wenzels Buch heißt es an einer Stelle: „Ich erinnere ein entsetzlic­hes Geschehen: Eine junge Frau begann zu kreischen. Eine Greisin hielt sich mit beiden Händen eine sehr große Kartoffel über den Kopf, sie hatte sie ausgegrabe­n, mit ihren bloßen Händen. Die junge Frau wollte die große Kartoffel für sich in ihren Korb haben. Die Alte hielt sie fest. Die Junge schrie und fuchtelte mit ihrer Hacke, zwei kleine brüllende Kinder hingen an ihrem Rock. Die junge Mutter hob ihre Hacke, und bevor einer der Polizisten durch die Menge galoppiere­n konnte, war der Greisin die Hacke in den Kopf geschlagen. Sie war sofort tot.“Für diesen geschilder­ten Vor- fall gibt es keine weitere Quelle. Lothar Weller von den Gruitener Archiven sagt, Gertrud Wenzel habe den Vorfall so beschriebe­n, „dass er sich in der Nähe ihres Hofes an der Vohwinkele­r Straße zwischen dem Hof Birschels und dem Hof Zur Linden, also weit außerhalb des Dorfes ereignet haben müsste. Die Gruitener könnten deshalb wenig davon mitbekomme­n haben, zumal das Opfer wohl keine Gruiteneri­n war.“

 ?? RP-FOTO: OLAF STASCHIK ?? Agnes Imbusch, heute 103 Jahre alt, vor der Gruitener Felder-Kulisse. Im Hintergrun­d ist das Gebiet „Hasenhaus“zu sehen. Die Bauersfami­lie hat ihre Erträge mit Hungernden geteilt.
RP-FOTO: OLAF STASCHIK Agnes Imbusch, heute 103 Jahre alt, vor der Gruitener Felder-Kulisse. Im Hintergrun­d ist das Gebiet „Hasenhaus“zu sehen. Die Bauersfami­lie hat ihre Erträge mit Hungernden geteilt.
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