„Niemand kann uns zum Hass zwingen“
Israel will der palästinensischen Familie Nassar ihren Grundbesitz wegnehmen. Die Familie wehrt sich.
BETHLEHEM Gerade ist die Sonne hinter den Hügeln um Bethlehem untergegangen. Wenn man auf „Dahers Weinberg“nahe des palästinensischen Dorfes Nahalin steht, kann man die Sonne an guten Tagen im Mittelmeer verschwinden sehen. Heute ist ein guter Tag. „Dahers Weinberg“gehört der arabischchristlichen Familie Nassar. Schon in der vierten Generation leben sie dort, bauen Oliven und Mandeln an und halten Vieh. Über die Jahre ist dort auch die interkulturelle Begegnungsstätte „Tent of Nations“(Zelt der Nationen) entstanden.
Vor dem Abendhimmel zeichnet sich die Silhouette eines orangen VW-Busses ab. Der Bus ist Baujahr 1975 und dient den Nassar als Familienvehikel. Mit ihm haben sie viel erlebt, wie auch an einem Samstagabend vor einigen Jahren, als Daoud Nassar mit seiner Frau, seinen drei Kindern und seiner Mutter Meladeh in etwa neun Kilometer entfernte Bethlehem fuhr. Es ist kurz vor Mitternacht. Die Familie will am nächsten Morgen den Gottesdienst besuchen. Daouds Töchter und sein Sohn schlafen hinten im Bus. Plötz- lich springen israelische Soldaten auf die Straße. Der Familienvater soll aussteigen, die roten Laserpointer der Maschinenpistolen tanzen auf seiner Brust. Die Soldaten wollen den Van durchsuchen. „Die waren sehr aggressiv“, erzählt Daoud. „Wir hatten Angst, und die Soldaten hatten auch Angst vor uns.“
Der Offizier fordert ihn auf, seine Kinder zu wecken. Daoud versucht, mit ihm zu reden. Aber der Soldat besteht auf der Durchsuchung des VW-Busses. So weckt der Vater seine schlafenden Kinder und erklärt ihnen auf Englisch, damit die Soldaten ihn verstehen können, dass sie gleich israelische Soldaten mit Gewehren sehen werden. Sie sollten aber keine Angst haben, die Soldaten seien nette Menschen.
„Das war eine ganz schwierige Situation. Die Waffen waren auf uns gerichtet, aber ich musste meinen Kindern erzählen, dass sie keine Angst zu haben brauchen.“Als die Durchsuchung beendet ist, entschuldigt sich der Offizier bei ihm. „Sie haben verstanden, dass wir Menschen sind und keine Feinde“, sagt Daoud.
Vor 25 Jahren hat die israelische Regierung das Land, auf dem „Da- hers Weinberg“steht, zu öffentlichem Besitz erklärt. Nun stehen rund um das palästinensische Dorf Nahalin und den Weinberg der Familie Nassar fünf jüdische Siedlungen. Die Straße zur Farm ist blockiert, das Militär hat dort Geröll aufgeschüttet, so dass Fahrzeuge nicht mehr durchkommen.
Die Familie lebt nach vier Prinzipien, erklärt Daoud. „Erstens: Wir weigern uns, Opfer zu sein. Nur so kommen wir aus der Defensive. Zweitens: Niemand kann uns zum Hass zwingen. Drittens: Wir handeln anders. Unser Glaube steht im Zentrum unseres Widerstandes. Und viertens: Wir glauben an Gerechtigkeit.“
Und so wird die Geschichte der Nassars zu einem Lehrstück in Sachen Nahost-Konflikt. Das Land gehört der Familie seit 100 Jahren. 1916 kaufte Daouds Großvater Da- her den Weinberg und zog mit seiner Familie auf den Hügel, um das Land zu bewirtschaften. Die Familie lebte in Felsenhöhlen. 1916 gehörte das heutige Palästina noch zum Osmanischen Reich. Und weil dessen Behörden Grundsteuer von den Landeigentümern forderten, ließ Daher Nassar sein Land registrieren und bekam im Gegenzug eine Urkunde. Auch unter der britischen, jordanischen und schließlich israelischen Herrschaft ließen die Nassars ihren Besitz immer wieder registrieren. Und als 1991 Israel das Land, auf dem der Weinberg steht, zum öffentlichen Besitz erklärte, konnten die Nassars nachweisen, dass sie die rechtmäßigen Eigentümer der 42 Hektar sind. Grundsteuer und Urkunden könnten nun ihre Existenzgrundlage retten.
Seit 25 Jahren ist der Fall Nassar beim obersten israelischen Gericht anhängig. Bislang ohne Entscheidung. Daoud verzweifelt daran aber nicht. Er möchte in allem das Positive sehen. „Wir sind immer noch da“, sagt er. Rückschläge gab es auch schon: 2014 hat das israelische Militär Olivenbäume auf dem Gelände der Nassars gefällt. Und davor gab es auch Übergriffe von jüdischen Siedlern. „Seit wir mehr internationalen Besuch haben, gab es solche Überfälle nicht mehr.“
Gerade wird direkt neben dem Weinberg eine Tora-Schule gebaut. In der untergehenden Abendsonne hört man die Planierraupen, die das felsige Gelände in ebenen Baugrund verwandeln sollen. „Wir leben hier mit der täglichen Angst, dass plötzlich eine der Planierraupen auf unserem Gelände steht“, sagt Daoud.
Für den Fall, dass die Schule fertig gebaut wird und „Dahers Weinberg“dann vollständig abgeschnitten ist, will die Familie zu einem Selbstversorgerbetrieb werden. Dafür haben sie zusammen mit freiwilligen Helfern schon eine Solaranlage gebaut. Nun soll das Regenwasser in einer Zisterne gesammelt und wieder aufbereitet werden. „In den letzten Jahren haben wir auch in den Ausbau der landwirtschaftlichen Produktion investiert“, sagt Daoud. Mit den Einnahmen aus der Landwirtschaft verdienen die Nassars Geld. Außerdem gibt es auf dem Gelände einen Zeltplatz. Für Projekte wie etwa ein Sommerlager für palästinensische Kinder bekommen die Nassars Spendengelder von christlichen Gemeinden im Ausland.