Montecristo
Unbekannt“stand auf dem Display von Marinas Handy. Sie meldete sich mit einem kühlen „Hallo“. „Ich bin’s, Jonas.“„Jonas! Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen, was ist passiert?“
„Nichts. Mein Handy ist in den Pool gefallen. Es liegt in einem Kilo Reis zum Trocknen.“
„Und ich dachte, dass weiß Gott was passiert ist. Geht es dir gut?“„Ja. Und dir?“„Ich vermisse dich.“„Ich dich auch. Aber nicht mehr lange.“„Wann kommst du?“„Vielleicht schon morgen. Kommt darauf an.“„Worauf?“„Schau dir die Tagesschau an. Ab achtzehn Uhr.“„Warum?“„Wirst schon sehen. Wo bist du?“„Zu Hause.“„Was machst du?“„Was man so macht, an einem Sonntag zu Hause. Sich langweilen. Wie kann ich dich erreichen?“„Auf dieser Nummer.“„Sie ist unterdrückt.“„Warte, ich gebe sie dir.“Sie hörte, wie er auf Tasten drückte. Dann verstummte die Linie und das Besetztzeichen ertönte.
„Er sagt, ich soll die Tagesschau anschauen“, sagte sie.
„Das werden wir“, antwortete Tommy, Jonas’ Regieassistent, der an der Theke stand, die die Küche vom Wohnesszimmer trennte. Sacha Duval, der erste Botschaftssekretär der Schweizer Botschaft, stand am Fenster seines Büros im siebzehnten Stock des Centro Capital Center Building in Abu Dhabi. Von hier aus konnte er die amerika- nische Botschaft sehen, die in weniger als einem Kilometer Luftlinie nordwestlich lag. Dort arbeitete Donald Tryst, der Chef des U.S. Liaison Office, den er gerade am Draht hatte. Sie hatten sich ein paarmal bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen und sprachen sich mit Vornamen an, Sacha und Donald. Das Gespräch war kurz und informell und hatte nie stattgefunden. Donald sagte: „Immigration bestätigt mir, das Subjekt ist nie eingereist.“Sacha antwortete: „Thanks. Hope to see you soon.“Er legte auf und rief Bern an. Dem Ofen war das Heizöl ausgegangen. Jonas holte den Kanister aus dem Schuppen, der auch als Garage diente, und füllte den Tank. Er faltete eines der Blättchen, das zum Anzünden diente, so, wie es ihm die Vermieterin gezeigt hatte, zündete es an, warf es in den Ofen und schaute zu, wie es vom hereindringenden Öl ertränkt wurde. Eine halbe Stunde lang versuchte er, den Ofen in Gang zu bringen, dann gab er es auf. Jonas holte das Leintuch herunter, das immer noch als Filmhintergrund an der Wand hing, bezog das Bett, stellte den Wecker seines Handys und schlüpfte unter das Federbett. Er fühlte sich zerschlagen und ausgehöhlt, aber dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis er einschlafen konnte. Jonas erwachte von einem lauten Rasseln und dem Motorengeräusch eines schweren Fahrzeugs. Er sprang aus dem Bett und ging ans Fenster. Draußen wendete ein Traktor mit einem vorgespannten Pflug. Er hatte den Schnee zu einer Mauer zusammengeschoben, die den Zaun überragte. Der vermummte Fahrer sah ihn am Fenster stehen und winkte ihm zu. Jonas winkte zurück und blickte dem Fahrzeug nach, das auf dem frischgepflügten Landweg zurückfuhr. Es schneite noch immer in ergiebigen Flocken. Die Gartendekorationen waren nur noch als sanfte Erhebungen in der dicken Schneedecke erkennbar. Es dämmerte. Die Wohnung war kalt und roch nach Heizöl. Es war erst kurz vor vier, noch zwei Stunden bis zur Tagesschau. Jonas fand in der Küche eine Rolle Haushaltspapier und begann, Blätter davon zu dicken Dochten zu drehen und damit die Ölüberschwemmung im Ofen aufzutunken. Als er die Rolle aufgebraucht hatte, machte er mit Toilettenpapier weiter. Es war fast fünf, als es ihm gelang, den Ofen wieder in Gang zu setzen. Alles stank nach Heizöl. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, die Schneeketten zu montieren. Sie lagen noch unbenutzt in ihrer Originalverpackung, zusammen mit riesigen Plastikhandschuhen und einer unverständlichen Gebrauchsanweisung. Nach kurzer Zeit hatte Jonas es geschafft, die erste Kette in einen unentwirrbaren Knäuel aus Eisen zu verwandeln. Die zweite Kette montierte er ohne Probleme und beschloss, es dabei bewenden zu lassen. In der Wohnung war es inzwischen warm geworden. Er wusch sich die Hände, kochte eine Fertigsuppe und setzte sich vor den Fernseher. Dass das Thema nicht in der Inhaltsübersicht vorkam, hätte ihn eigentlich warnen sollen. Aber er sah sich die ganze Sendung an, bis er begriff. Nichts. Das dominierende Thema der Nachrichtensendung waren die gewaltigen Schneefälle der letzten Stunden und das Chaos, das sie angerichtet hatten. Von Jonas’ Bericht keine Spur. Während der ganzen Nachrichten schaltete er immer wieder auf TVch. Auch dort kein Ton über den GCBSSkandal. Ganz zum Schluss sagte die Moderatorin: „Und jetzt noch eine Vermisstenmeldung der Polizei . . .“Bildfüllend erschien sein Foto, das Nembus Productions als offizielles Pressebild für Montecristo hatte machen lassen. Jonas sah darauf aus wie jetzt: Schädel und Gesicht voller Dreitagestoppeln. Die Sprecherin gab seine Personenbeschreibung durch und Farbe und Kennzeichen seines VW Passat. Die Polizei bat um sachdienliche Hinweise. Jonas schaltete um auf TVch. Er konnte gerade noch das Bild des vermissten Jonas Brand sehen. Er begann, hastig zu packen. Er musste zweimal durch den tiefen Schnee stapfen, der den Weg zwischen Haustür und Schuppen bedeckte, um Gepäck, Computer und Kameraausrüstung ins Auto zu bringen. Und dann noch ein drittes Mal, um Frau Gerwiler ein Grußwort neben dem Schlüssel zu hinterlassen und alle Lichter zu löschen. Dunkel lag das tief verschneite Häuschen da, als er langsam daran vorbeifuhr. Er war froh um die eine Kette, deren loses Ende rhythmisch gegen das Schutzblech schlug. Er steuerte vorsichtig durch den Tunnel aus leuchtenden Schneeflocken, den die Scheinwerfer vor ihm öffneten. Als er sich dem Bauernhaus der Familie Gerwiler näherte, schaltete er die Standlichter ein und reduzierte die Geschwindigkeit auf Schritttempo.
(Fortsetzung folgt)