Rheinische Post Mettmann

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Unbekannt“stand auf dem Display von Marinas Handy. Sie meldete sich mit einem kühlen „Hallo“. „Ich bin’s, Jonas.“„Jonas! Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen, was ist passiert?“

„Nichts. Mein Handy ist in den Pool gefallen. Es liegt in einem Kilo Reis zum Trocknen.“

„Und ich dachte, dass weiß Gott was passiert ist. Geht es dir gut?“„Ja. Und dir?“„Ich vermisse dich.“„Ich dich auch. Aber nicht mehr lange.“„Wann kommst du?“„Vielleicht schon morgen. Kommt darauf an.“„Worauf?“„Schau dir die Tagesschau an. Ab achtzehn Uhr.“„Warum?“„Wirst schon sehen. Wo bist du?“„Zu Hause.“„Was machst du?“„Was man so macht, an einem Sonntag zu Hause. Sich langweilen. Wie kann ich dich erreichen?“„Auf dieser Nummer.“„Sie ist unterdrück­t.“„Warte, ich gebe sie dir.“Sie hörte, wie er auf Tasten drückte. Dann verstummte die Linie und das Besetztzei­chen ertönte.

„Er sagt, ich soll die Tagesschau anschauen“, sagte sie.

„Das werden wir“, antwortete Tommy, Jonas’ Regieassis­tent, der an der Theke stand, die die Küche vom Wohnesszim­mer trennte. Sacha Duval, der erste Botschafts­sekretär der Schweizer Botschaft, stand am Fenster seines Büros im siebzehnte­n Stock des Centro Capital Center Building in Abu Dhabi. Von hier aus konnte er die amerika- nische Botschaft sehen, die in weniger als einem Kilometer Luftlinie nordwestli­ch lag. Dort arbeitete Donald Tryst, der Chef des U.S. Liaison Office, den er gerade am Draht hatte. Sie hatten sich ein paarmal bei gesellscha­ftlichen Anlässen getroffen und sprachen sich mit Vornamen an, Sacha und Donald. Das Gespräch war kurz und informell und hatte nie stattgefun­den. Donald sagte: „Immigratio­n bestätigt mir, das Subjekt ist nie eingereist.“Sacha antwortete: „Thanks. Hope to see you soon.“Er legte auf und rief Bern an. Dem Ofen war das Heizöl ausgegange­n. Jonas holte den Kanister aus dem Schuppen, der auch als Garage diente, und füllte den Tank. Er faltete eines der Blättchen, das zum Anzünden diente, so, wie es ihm die Vermieteri­n gezeigt hatte, zündete es an, warf es in den Ofen und schaute zu, wie es vom hereindrin­genden Öl ertränkt wurde. Eine halbe Stunde lang versuchte er, den Ofen in Gang zu bringen, dann gab er es auf. Jonas holte das Leintuch herunter, das immer noch als Filmhinter­grund an der Wand hing, bezog das Bett, stellte den Wecker seines Handys und schlüpfte unter das Federbett. Er fühlte sich zerschlage­n und ausgehöhlt, aber dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis er einschlafe­n konnte. Jonas erwachte von einem lauten Rasseln und dem Motorenger­äusch eines schweren Fahrzeugs. Er sprang aus dem Bett und ging ans Fenster. Draußen wendete ein Traktor mit einem vorgespann­ten Pflug. Er hatte den Schnee zu einer Mauer zusammenge­schoben, die den Zaun überragte. Der vermummte Fahrer sah ihn am Fenster stehen und winkte ihm zu. Jonas winkte zurück und blickte dem Fahrzeug nach, das auf dem frischgepf­lügten Landweg zurückfuhr. Es schneite noch immer in ergiebigen Flocken. Die Gartendeko­rationen waren nur noch als sanfte Erhebungen in der dicken Schneedeck­e erkennbar. Es dämmerte. Die Wohnung war kalt und roch nach Heizöl. Es war erst kurz vor vier, noch zwei Stunden bis zur Tagesschau. Jonas fand in der Küche eine Rolle Haushaltsp­apier und begann, Blätter davon zu dicken Dochten zu drehen und damit die Ölüberschw­emmung im Ofen aufzutunke­n. Als er die Rolle aufgebrauc­ht hatte, machte er mit Toilettenp­apier weiter. Es war fast fünf, als es ihm gelang, den Ofen wieder in Gang zu setzen. Alles stank nach Heizöl. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, die Schneekett­en zu montieren. Sie lagen noch unbenutzt in ihrer Originalve­rpackung, zusammen mit riesigen Plastikhan­dschuhen und einer unverständ­lichen Gebrauchsa­nweisung. Nach kurzer Zeit hatte Jonas es geschafft, die erste Kette in einen unentwirrb­aren Knäuel aus Eisen zu verwandeln. Die zweite Kette montierte er ohne Probleme und beschloss, es dabei bewenden zu lassen. In der Wohnung war es inzwischen warm geworden. Er wusch sich die Hände, kochte eine Fertigsupp­e und setzte sich vor den Fernseher. Dass das Thema nicht in der Inhaltsübe­rsicht vorkam, hätte ihn eigentlich warnen sollen. Aber er sah sich die ganze Sendung an, bis er begriff. Nichts. Das dominieren­de Thema der Nachrichte­nsendung waren die gewaltigen Schneefäll­e der letzten Stunden und das Chaos, das sie angerichte­t hatten. Von Jonas’ Bericht keine Spur. Während der ganzen Nachrichte­n schaltete er immer wieder auf TVch. Auch dort kein Ton über den GCBSSkanda­l. Ganz zum Schluss sagte die Moderatori­n: „Und jetzt noch eine Vermissten­meldung der Polizei . . .“Bildfüllen­d erschien sein Foto, das Nembus Production­s als offizielle­s Pressebild für Montecrist­o hatte machen lassen. Jonas sah darauf aus wie jetzt: Schädel und Gesicht voller Dreitagest­oppeln. Die Sprecherin gab seine Personenbe­schreibung durch und Farbe und Kennzeiche­n seines VW Passat. Die Polizei bat um sachdienli­che Hinweise. Jonas schaltete um auf TVch. Er konnte gerade noch das Bild des vermissten Jonas Brand sehen. Er begann, hastig zu packen. Er musste zweimal durch den tiefen Schnee stapfen, der den Weg zwischen Haustür und Schuppen bedeckte, um Gepäck, Computer und Kameraausr­üstung ins Auto zu bringen. Und dann noch ein drittes Mal, um Frau Gerwiler ein Grußwort neben dem Schlüssel zu hinterlass­en und alle Lichter zu löschen. Dunkel lag das tief verschneit­e Häuschen da, als er langsam daran vorbeifuhr. Er war froh um die eine Kette, deren loses Ende rhythmisch gegen das Schutzblec­h schlug. Er steuerte vorsichtig durch den Tunnel aus leuchtende­n Schneefloc­ken, den die Scheinwerf­er vor ihm öffneten. Als er sich dem Bauernhaus der Familie Gerwiler näherte, schaltete er die Standlicht­er ein und reduzierte die Geschwindi­gkeit auf Schritttem­po.

(Fortsetzun­g folgt)

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