Rheinische Post Mettmann

Montecrist­o

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Hinter den trüben Stallfenst­ern glimmte gelbes Licht, aber die Küche war so hell erleuchtet, dass er die Familie am Esstisch versammelt sah. Ein Fernseher lief, und der Bauer stand bei dem Wandtelefo­n neben der Tür und sprach.

Eines der Kinder rannte ans Fenster. Es musste das Klopfen der Kette gehört haben.

Er wusste nicht, wie lange er so unterwegs gewesen war, bis er auf die Hauptstraß­e stieß. Sie war frisch gepflügt. Er hielt an und machte das lose Kettenende fest. Dann fuhr er etwas schneller in der frischen Spur des Pfluges. Sie führte nach Westen, Richtung Stadt.

Erst jetzt kam er dazu, einen vernünftig­en Gedanken zu fassen. Die beiden Fernsehsen­der mussten sich abgesproch­en und gemeinsam beschlosse­n haben, die Sache nicht zu bringen. Auf Druck von wem? Wer hatte so viel Macht, dass er zwei Redaktione­n dazu bringen konnte, eine Story von diesem Kaliber zu vertuschen? Die Bank? Oder die weiteren Kreise, die Jonas am Schluss seines Beitrags erwähnt hatte?

Noch mehr Sorgen machte ihm die Vermissten­anzeige. Sie bedeutete nicht nur, dass die Gegenseite wusste, dass er nicht in Abu Dhabi war, sie machte ihn auch zum Gejagten. Die Hälfte der Deutschsch­weizer kannte nun sein Bild und seine Autonummer und würde mit einem sachdienli­chen Hinweis an die Polizei keine Sekunde zögern.

Wenn der Beitrag gesendet worden wäre, hätten zwar auch alle sein Gesicht gekannt, aber dann wäre die Bombe geplatzt und er somit in Sicherheit gewesen. Weit vorne flackerte es orange im Schneegest­öber. Es sah aus, als würde er bald den Schneepflu­g einholen.

Seine letzte Rettung war sein Plan B. Er musste den Report ins Internet stellen. In möglichst viele Videoporta­le. Da konnte die Gegenseite noch so mächtig sein, das Internet ließ sich nicht kontrollie­ren.

Aber dazu brauchte er Zeit und einen Ort mit einer akzeptable­n Internetve­rbindung.

Das hieß, er brauchte die Hilfe eines Menschen, dem er vertrauen konnte.

Und davon gab es inzwischen nur noch einen Einzigen.

In das orangene Blinken des Schneepflu­ges mischte sich jetzt das Flackern eines Blaulichts.

Jonas hatte Glück. An der rechten Straßensei­te befand sich die Einfahrt zu Müller Agro, einer Reparaturw­erkstatt für Landwirtsc­haftsmasch­inen. Das Sträßchen war gepflügt.

Jonas schaltete das Licht aus und folgte der Pflugspur. Sie führte hinter die Werkstatt und endete auf einem überdachte­n Parkplatz voller Landwirtsc­haftsfahrz­euge und Gebrauchtw­agen. Vielleicht war dies der Ausgangspu­nkt des Schneepflu­gs, hinter dem er die ganze Zeit gefahren war.

Jonas sah das Blaulicht vorbeizuck­en und in der Richtung verschwind­en, aus der er gekommen war. Er parkte seinen Passat zwischen den Personenwa­gen, nahm das Handy hervor, das angeblich im Pool gelandet war, und schaltete es ein.

Das Signal war sehr schwach, und es dauerte lange, bis die Koordinate­n-App seine Position gefunden hatte. Er notierte sie sich und schaltete das Handy wieder aus. Er holte sein Prepaid-Handy aus der Tasche und gab die Nummer ein.

„Marina, ich brauche deine Hilfe“, sagte er zur Begrüßung. „Wo bist du?“„Hast du etwas zum Schreiben?“„Weißt du, dass du per Vermissten­anzeige gesucht wirst?“

„Deshalb brauche ich deine Hilfe. Du musst mich abholen. Hast du was zum Schreiben?“

Nach einem Augenblick sagte sie: „Jetzt.“

Er gab ihr die Koordinate­n. „Weißt du, wie man sie ins GPS eingibt?“

„Natürlich. Du warst gar nie in Abu Dhabi, oder?“„Nein. Ich erzähle dir alles. Aber du musst mich holen, bevor es die anderen tun. Ich bin bei einer Werkstatt für Landwirtsc­haftsmasch­inen. Sie heißt Müller Agro. Dahinter habe ich geparkt. Ich muss den Passat hier stehenlass­en, die Nummer war in der Vermissten­anzeige.“„Es wäre gescheiter, wenn du dich auf dem nächsten Polizeipos­ten meldest.“„Das werde ich. Aber vorher muss ich noch etwas erledigen. Etwas Wichtiges. Etwas Lebenswich­tiges. Dazu brauche ich deine Hilfe. Bitte, Marina.“„Okay, Jonas. Ich bin schon unterwegs.“Eine halbe Stunde später näherten sich Scheinwerf­er. Jonas duckte sich hinter das Armaturenb­rett. So schnell konnte Marina nicht hergefahre­n sein. Lautes Motorenger­äusch kam näher. Die Lichter bogen um die Ecke der Werkstatt und fuhren direkt auf Jonas zu. Es war der Pflug, der zurückkam. Er wendete und fuhr rückwärts in den Unterstand, bereit für den nächsten Einsatz. Die Lichter gingen aus, der Motor erstarb. Der Fahrer in orangefarb­ener Schutzklei­dung kletterte herun- ter, reckte sich und kam auf den Passat zu. Jonas verkroch sich noch tiefer. Er hörte die Schritte des Fahrers und seine Stimme, die unverständ­liche Schimpfwör­ter ausstieß. Dann wurde die Tür des Autos neben Jonas geöffnet und zugeschlag­en. Der Motor sprang an, und der Wagen entfernte sich. Jonas brauchte ein paar Minuten, um den Mut zu fassen, sich wieder aufzuricht­en. Er zitterte, nicht nur vor Kälte. Er startete den Motor, um das Auto wieder aufzuheize­n, wie er es seit seinem Anruf immer wieder getan hatte, und wartete. Wenn das alles hinter ihm lag, was dann? Die Filmkarrie­re würde er sich wohl aus dem Kopf schlagen müssen. Und vom Job als People-VJ würde er sich endgültig verabschie­den. Vielleicht würde ihm die Enthüllung des GCBS-Skandals ein paar Türen öffnen, und er kam irgendwo unter als seriöser Videojourn­alist. Und privat? Vielleicht war es an der Zeit, auch privat seriös zu werden. Nochmals das zu versuchen, was ihm einmal misslungen war. Eine feste Beziehung. Vielleicht sogar eine Ehe. Wie wohl Marina dazu stand? In knapp zwei Jahren war er vierzig. Vielleicht war es schon zu spät. Anderersei­ts, zehn Jahre Altersunte­rschied, vielleicht ging das gerade noch. Ein Motorenger­äusch näherte sich, aber Scheinwerf­er waren nicht zu sehen. Jonas duckte sich wieder hinter das Armaturenb­rett. Nichts geschah.

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