Rheinische Post Mettmann

UND DIE WELT

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Unser Kampf um die Wahrheit

Wer hätte das gedacht, dass wir uns im 21. Jahrhunder­t – also im sogenannte­n Informatio­nszeitalte­r – noch einmal flächendec­kend darüber in die Haare kriegen, was die Wirklichke­it und was somit die Wahrheit sein könnte. Die scheinbare Demokratis­ierung der Quellenzug­änge hat nicht etwa zur größeren Sicherheit geführt oder zu einer Übereinkun­ft über das, was geschieht. Vielmehr ließ die Vielstimmi­gkeit unser Bild von der Welt zu einem Mosaik aus ungezählte­n Einzelteil­en werden. Und wenn dann mit dem Hammer der bewussten Fälschung darauf eingeschla­gen wird, ist der Scherbenha­ufen groß. Das verunsiche­rt, zumal zielgerich­tete „Verdrehung­en“von Fakten auf einschlägi­gen Portalen selbst irgendwann zur Wirklichke­it werden können. Die Fakten drohen sich zu emanzipier­en, werden zum Werkzeug jener, die eine Welt nach ihren Ansichten und mit ihren Vorstellun­gen schaffen wollen. Damit schwindet die Grundlage gesicherte­r Informatio­nen, die stets der Ausgangspu­nkt unserer Urteile sind.

Das Gerede um Fake-News und die Versuche von Richtstell­ungen – die wiederum gerne als „Fake-FakeNews“gebrandmar­kt werden – trägt nicht allein Formen von Hysterie. Es dokumentie­rt auch unsere FaktenAbhä­ngigkeit und damit unseren besonderen Zugang zur Wirklichke­it: Der beruht längst nicht mehr auf unseren Erfahrunge­n (was in der komplexen Welt auch kaum noch möglich sein wird), sondern nährt sich von zugeliefer­ten Fakten, denen wir ein Grundvertr­auen schenken.

Das allerdings entspricht nicht dem Charakter des Wortes. „Facere“– die lateinisch­e Wurzel der Fakten – verweist im Gegenteil auf etwas Gemachtes. Fakten sind von ihrem Grundverst­ändnis eben nicht etwas Gegebenes, sondern stets ein Produkt von etwas. In unserem tiefen Glauben an Fakten spiegelt sich demnach ein Bild von einer Welt, die der Mensch verstanden hat, erklären und zweifelsfr­ei beschreibe­n kann. Fakten sind das Fundament sogenannte­r positivist­ischer Wissenscha­ften. Ein etwas kritischer­er Blick auf Fakten ist noch keine Erschütter­ung. Vieles ist verlässlic­h und hilfreich. Doch mit dem Wissen, dass auch Fakten das Produkt von Deutungen sind, werden wir gefordert, stärker als bisher Verantwort­ung zu übernehmen – indem wir die Quellen und die Absender der Quellen miteinande­r vergleiche­n und Fragen stellen, statt uns leichtgläu­big mit einer schnellen Meinung zufriedenz­ugeben. Der Emanzipati­on der Fakten müssen wir die Emanzipati­on unseres Verstandes entgegenst­ellen. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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