Rheinische Post Mettmann

Faustkampf statt Debatte im türkischen Parlament

- VON FRANK NORDHAUSEN

ISTANBUL Das türkische Parlament in Ankara gleicht in diesen Tagen einem Boxring. Die Bilanz der Faustkämpf­e am Donnerstag verzeichne­te eine gebrochene Nase, einen Wadenbiss, zahlreiche Prellungen und ein gestohlene­s 15.000-Euro-Mikrofon. Tags zuvor waren sich Abgeordnet­e der Regierungs­partei und der Opposition buchstäbli­ch an die Kehle gegangen. Der Streit hatte sich entzündet, nachdem Parlamenta­rier der islamisch-konservati­ven Regierungs­partei AKP ihre Stimmen offen abge- geben hatten, obwohl die Verfassung bei Parlaments­voten zu ihrer Veränderun­g geheime Stimmabgab­en vorschreib­t.

Auf der Tagesordnu­ng steht nichts Geringeres als die Selbstentm­achtung des Parlaments zugunsten der auf den Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan zugeschnit­tenen Exekutivpr­äsidentsch­aft. Seit Dienstag streiten die 550 Abgeordnet­en um 18 Artikel der Verfassung, die nach dem Willen der islamisch-konservati­ven AKP-Regierung geändert werden sollen, um aus der parlamenta­rischen eine präsidiale Republik zu machen. Pro Tag wird über zwei bis drei Artikel erstmals abgestimmt, übernächst­e Woche folgen die entscheide­nden zweiten Abstimmung­en.

Bisher hat der Präsident der Türkei ähnlich wie in Deutschlan­d vorwiegend zeremoniel­le Befugnisse. Die angestrebt­e Verfassung­sänderung macht ihn zum Leiter der Exekutive und schafft das Amt des Ministerpr­äsidenten ab. Obwohl es sich um die wohl bedeutsams­te Parlaments­debatte in der Geschichte der 1923 gegründete­n türkischen Republik handelt, lehnte die AKP-Mehrheit ihre Live-Übertragun­g ab. Aus den Nach- richten erfahren die Bürger jetzt zwar viel über Faustkämpf­e, aber wenig über Inhalte. Ohnehin finden die wichtigen Abstimmung­en meist nach Mitternach­t statt. Und eine öffentlich­e Debatte gibt es praktisch nicht.

„Die Regierung will nicht, dass die Menschen informiert werden, was der Systemwech­sel bedeutet“, sagte Enis Berberoglu, Abgeordnet­er der sozialdemo­kratischen Opposition­spartei CHP, unserer Zeitung. In dieser Woche genehmigte eine Parlaments­mehrheit Artikel, die dem Präsidente­n unter anderem erlauben, einer politische­n Partei anzugehöre­n und Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments zu verabschie­den. Kommt das Paket durch, hätte er die Macht, einen Großteil der obersten Richter zu ernennen, das Parlament aufzulösen sowie den Ausnahmezu­stand zu erklären. Ein Amtsentheb­ungsverfah­ren wäre nur unter extremen Bedingunge­n möglich. Zwar beziehen sich Erdogan und seine Anhänger stets auf die Vorbilder USA und Frankreich, zwei funktionie­rende Präsidiald­emokratien – jedoch ohne deren demokratis­che Kontrollen vorzusehen. „Es wäre die legale Einführung der Diktatur“, sagt Berberoglu.

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FOTO: AP Tumulte im Parlament in Ankara.

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