Rheinische Post Mettmann

Die autoritäre Versuchung

- VON MATTHIAS BEERMANN

Der scheidende US-Präsident Barack Obama hatte zuletzt größte Mühe, seine Geringschä­tzung für Wladimir Putin und seine Politik zu verbergen. Einst bezeichnet­e er Russland herablasse­nd als „Regionalma­cht“, was eine sehr unkluge Provokatio­n war. Unlängst legte er noch einmal nach: „In Russland wird nichts hergestell­t, was irgendwer auf der Welt kaufen wollte, außer Rohstoffen und Waffen“, ätzte Obama. Damit hat er zwar Recht, dennoch ist Putins Russland heute zum Vorbild geworden, gilt sogar als Alternativ­e für die Demokratie westlichen Typs. Putins Behauptung, Demokratis­ierung sei in Wirklichke­it ein Komplott der Amerikaner, um sich dadurch Vorteile zu verschaffe­n, stößt in vielen Ländern auf Anklang. Wie konnte es dazu kommen?

Als nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n Ende 1993 unter dem damaligen Präsidente­n Boris Jelzin eine neue Verfassung für die Russische Föderation verabschie­det wurde, gab es Kritik an der extrem dominanten Stellung, die dem Staatschef zugedacht war. Jelzin wischte die Einwände beiseite. In einem Land, das an Zaren und Führer gewohnt sei, in dem sich politische Parteien gerade erst herausbild­eten, sei die Machtfülle des Präsidente­n angebracht. Jelzin konnte es damals nicht ahnen, aber er hatte damit die Grundlage geschaffen für einen in dieser Ausprägung neuen Typus der Staatsform: die gelenkte Demokratie.

Als nach den Präsidents­chaftswahl­en im Jahr 2000 Wladimir Putin an die Spitze Russlands rückte, wurde die Gewaltente­ilung endgültig ausgehebel­t, die Medien eingeschrä­nkt, der gesamte Staat auf eine straffe Führung von oben ausgericht­et. Und nach dem Chaos der Jelzin-Jahre wurde dieser autokratis­che Schwenk von einer Mehrheit der Russen sogar begrüßt. Denn Putin versprach seinem Volk etwas, was vielen bis heute wichtiger ist als Freiheit und Mitbestimm­ung: Ordnung.

Auch im Westen gibt es diese Sehnsucht nach Ordnung, nach dem starken Mann, der einfache Lösungen bietet, der keine Rücksicht nehmen muss auf die verschlung­ene Willensbil­dung der pluralisti­schen Demokratie mit ihren schwierige­n Kompromiss­en und politische­n Tabus. Der einen klaren Kurs zu fahren scheint in der unübersich­tlichen, globalisie­rten Welt, die vielen Menschen Angst macht. Auch Bürger in westlichen Staaten sind fasziniert von Typen wie Putin, die eine Alternativ­e bieten zur Führung durch eine politische und wirtschaft­liche Elite, der sie sich hilflos ausgeliefe­rt fühlen. So ergab schon 2011 eine Studie der Universitä­t Bielefeld, dass sich fast ein Drittel der Deutschen, mehr als 40 Prozent der Franzosen und Briten sowie mehr als 60 Prozent der Polen und Portugiese­n einen „starken Mann“wünschen.

Seine größten Erfolge feiert der „Putinismus“allerdings derzeit in Ländern, die keine lange Tradition westlicher Demokratie haben. In der Türkei ist Präsident Recep Tayyip Erdogan gerade dabei, ein autoritäre­s, islamistis­ch gefärbtes Regime zu installier­en, das mit seinen Gegnern kurzen Prozess macht. In Ungarn schränkt Viktor Orbán Bürgerrech­te und Pluralismu­s immer weiter ein, und er hat für die ungarische Ausprägung der gelenkten Demokratie sogar einen eigenen Begriff geprägt: die „illiberale Demokratie“. Die Demokratie westlichen Zuschnitts will Orbán abschaffen. An ihrer Stelle wolle er eine „Arbeitsges­ellschaft“aufbauen, einen Staat, der sich künftig mehr an „nichtliber­alen oder nichtdemok­ratischen Erfolgsnat­ionen“wie Russland, China, Singapur, Indien und der Türkei orientiere­n werde als an der EU, erklärte Orbán im Juli 2015.

Gerade Ungarn ist ein ernüchtern­des Beispiel. Vor einem Vierteljah­rhundert galt das Land, das schon zu Sowjetzeit­en der westlichst­e aller kommunisti­schen Staaten gewesen war, als Musterrefo­rmland in Osteuropa und als Beispiel für einen Demokratis­ierungs- und Transforma­tionsproze­ss, der irreversib­el erschien. Das hat sich als großer Irrtum erwiesen. Ernüchtern­d auch: Bislang weiß Orbán ebenso wie Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei die Mehrheit des Volkes hinter sich. Mehr als zwei Drittel der Russen glauben, dass die gelenkte Demokratie der als chaotische­n empfundene­n Variante überlegen ist, die im Westen praktizier­t wird. Und fast die Hälfte der Ungarn hält eine Mitgliedsc­haft in der EU, deren liberale Werte Orbán ständig verspottet, inzwischen für verzichtba­r.

Gelenkte Demokratie­n müssen allerdings auch liefern. Zu stark darf die Unzufriede­nheit der Bürger nicht werden

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