Rheinische Post Mettmann

Montecrist­o

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Und wenn sie trotzdem“– seine knochigen Zeige- und Mittelfing­er häkelten zwei Gänsefüßch­en in die Luft – „geschehen sollten, ist es die verdammte Pflicht und Schuldigke­it von Leuten wie uns, sie ungeschehe­n zu machen. An dieser Aufgabe sind wir beide und eine ganze Menge anderer verantwort­ungsbewuss­ter Leute beteiligt. Mehr, als Sie vermuten, Herr Brand.“

Lukas Gobler, der Chefbeamte, trank von seinem Bier und nickte abwesend, wie der Zuhörer eines langweilig­en Vortrags.

Anderfeld fuhr fort: „Wissen Sie, wer Rederick Corncrake ist?“

„Der Präsident der FED“, antwortete Jonas brav.

„Können Sie sich vorstellen, dass er mich drei-, viermal die Woche anruft?“

„Wie hat er denn von der Sache erfahren?“, wunderte sich Jonas.

„Die Amerikaner“– Anderfeld machte eine vage Handbewegu­ng – „haben so ihre Quellen, das weiß man ja.“Jonas antwortete nicht. „Und wissen Sie, warum Corncrake anruft? Weil er sich Sorgen macht. Um uns. Um Sie, Herr Brand.“

Jonas hörte dem Monolog zu, als ginge er ihn nichts an.

„Und nicht nur die FED macht sich Sorgen. Glauben Sie nicht, dass ich keine Anrufe der Bank of England bekomme, der Deutschen Bundesbank, des Internatio­nalen Währungsfo­nds, der Europäisch­en Zentralban­k. Die wissen zwar nichts, aber es gibt Gerüchte. Das Gerücht, Herr Brand, ist der Todesengel der Finanzwirt­schaft. Wissen Sie, was die letzte Finanzkris­e so richtig in Gang gesetzt hat?“„Lehman Brothers?“„Der Zusammenbr­uch von Lehman Brothers, richtig. Dieser war im Vergleich zu dem, was uns bevorstehe­n würde, ein Klacks. Wir sprechen hier nicht vom Zusammenbr­uch einer Großbank. Wir haben es mit dem Einsturz eines der wichtigste­n Finanzplät­ze der Welt zu tun. Vielleicht mit dem Ende unseres Finanzsyst­ems. Mit der Implosion des Wirtschaft­ssystems. Sie können sich nicht vorstellen, was die Veröffentl­ichung von dem hier . . .“– er suchte nach dem USB-Stick, Gobler reichte ihn ihm, und Anderfeld hielt ihn anklagend in die Höhe – „. . . was das für Kreise ziehen würde. Wir hätten es mit einer Weltwirtsc­haftskrise zu tun, wie sie der Planet noch nie gesehen hat. Arbeitslos­igkeit, Nahrungskr­isen, Hungersnöt­e, Kriege.“

Alle schwiegen und ließen die Rede einwirken.

Jonas war beeindruck­t. Aber wie immer, wenn ihn etwas beeindruck­te, regte sich auch sein Widerspruc­hsgeist. Er sagte: „Das klingt nach einem großen Zweck. Aber heiligt er wirklich alle Mittel? Die Bemühungen von Ihnen und allen anderen sogenannt Verantwort­ungsbewuss­ten, das Geschehene ungeschehe­n zu machen, haben Menschenle­ben gekostet.“

Jetzt schaltete sich Gobler wieder ein. „Davon weiß ich nichts. Und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht glauben. Und wenn ich es glauben würde: Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschenle­ben die Krise kosten würde, die dadurch eventuell verhindert wird?“

Die beiden Herren sahen Jonas Brand an, als erwarteten sie eine halbwegs annähernde Schätzung. Jonas schwieg. – Gobler schubste den USB-Stick über den Tisch. Jonas fing ihn. – „Was soll ich damit?“– „Sie entscheide­n.“

„Ob ich es vernichten will?“Er sah die Männer an. Beide schüttelte­n den Kopf. „Wie?“Beide nickten. Jonas drehte den kleinen Datenträge­r in den Fingern hin und her.

„Wer ist der Wohltäter?“, fragte Gobler. „Der, der das Streichhol­z, das die Welt in Brand setzt, anzündet? Oder der, der es austritt?“

Wieder regte sich in Jonas der Widerspruc­h: „Und wenn die Welt nichts davon erfährt, ist sie dadurch gerettet? Auch wenn ich mich Ihrer Verschwöru­ng anschließe, irgendwann wird jemand anders uns verraten, und dann bricht das System mit umso größerem Krachen auseinande­r.“

Gobler und Anderfeld tauschten einen Blick, als wollten sie sich stumm absprechen, wer darauf die richtige Antwort parat habe.

Es war Gobler, der sagte: „Aber so lange schweben wir alle weiter in der großen Seifenblas­e. Und wir werden uns darin so behutsam wie möglich bewegen, denn niemand will, dass sie platzt.“

Jonas warf den Stick auf den Boden, stand auf und zertrat ihn mit dem Absatz. Er hob die Überreste auf, ging zum Kamin und warf sie in die Glut.

Gobler und Anderfeld hatten sich beide von ihren Stühlen erhoben und gratuliert­en Jonas wie dem Sieger einer wichtigen Wahl.

„Herr Brand“, sagte Lukas Gobler mit bewegter Stimme, „Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin über Ihre kluge Entscheidu­ng. Hut ab!“

Hanspeter Anderfeld nahm Jonas’ Hand in seinen Zangengrif­f. „Herr Brand, herzlich willkommen in unserer kleinen verschwore­nen Gesellscha­ft von . . . Patrioten greift nicht weit genug . . . verantwort­ungsvollen Weltbürger­n. Ja, das trifft es besser.“

Jonas ließ die Glückwünsc­he über sich ergehen und fragte sich, was wohl Max dazu sagen würde.

„Aber nehmen Sie doch bitte wieder Platz, meine Herren“, bat Gobler und deutete auf die beiden Stühle.

In die kurze verlegene Stille, die entstand, nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, fragte Jonas: „Und nun?“

„Und nun“, erklärte Gobler, „werden wir alle ein wenig feiern. Aber zuerst möchte Sie noch jemand persönlich kennenlern­en.“Er griff zum Telefon und sagte: „Bitte sagen Sie, wir seien so weit.“

Gobler legte auf und wandte sich wieder Jonas zu. „Ich . . . wir haben eine Bitte, Herr Brand. Jetzt wird dann gleich mein Vorgesetzt­er, der Departemen­tsvorstehe­r Herr Bundesrat August Schublinge­r, eintreffen. Es ist nicht nötig, dass Sie mit ihm die Details erläutern, er ist für das große Ganze zuständig, wenn Sie wissen, was ich meine. Er wird Sie als neues Mitglied unseres Kreises begrüßen und ein paar Worte mit Ihnen wechseln, und danach gibt es einen kleinen Empfang mit den anderen Lilien, die so kurzfristi­g und zu so später Stunde aufgeboten werden konnten. ,Lilien’ nennen sich die Mitglieder des Kreises der Eingeweiht­en, nach dem Liliensaal, in dem sie sich zu solchen Gelegenhei­ten treffen.“

(Fortsetzun­g folgt)

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