Rheinische Post Mettmann

Fall Amri wird zum Wahlkampf-Thema

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Die Ermittler tauschten sich fast wöchentlic­h über den Attentäter aus. In NRW streiten die Parteien, wie die Pannen untersucht werden.

BERLIN (csh/hüw/may-/rky/tor) Der Attentäter vom Berliner Weihnachts­markt, Anis Amri, ist offenbar noch häufiger Gegenstand von Besprechun­gen der deutschen Sicherheit­sbehörden gewesen als bislang bekannt. Aus einer von den Bundesmini­sterien des Innern und der Justiz gestern vorgelegte­n Chronologi­e zu den Behördenab­läufen im Fall Amri geht hervor, dass sich die Behörden seit Ende 2015 nahezu wöchentlic­h mit dem Tunesier befassten. Er wurde als islamistis­cher Gefährder eingestuft, fiel mehrfach als Kriminelle­r auf, wurde als Asylbewerb­er abgelehnt und dennoch nicht in Abschiebeh­aft genommen. Zeitweise war er komplett abgetaucht. Auch ein marokkanis­cher Geheimdien­st hatte im Herbst 2016 mehrfach vor ihm gewarnt.

Amri war am 19. Dezember mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachts­markt gerast. Dabei starben zwölf Menschen, Dutzende wurden teils schwer verletzt.

Die Chronologi­e der Akte Amri wurde gestern in einer Sondersitz­ung des Parlaments­gremiums zur Kontrolle der Geheimdien­ste erörtert. Der Vorsitzend­e Clemens Binninger dämpfte aber zu große Erwartunge­n: „Es wird sicher nicht möglich sein, jede Frage zu beantworte­n“, sagte der CDU-Politiker. Aufarbeitu­ng Die rot-grüne Landesregi­erung in NRW pocht derweil darauf, dass der Fall Amri – soweit er NRW betrifft – von einem neutralen Gutachter untersucht wird. Wie der Chef der Staatskanz­lei, Franz-Josef Lersch-Mense (SPD), erklärte, sollen noch in dieser Woche die Einzelheit­en dazu geregelt werden. Er rechne damit, dass die Ergebnisse bis Ende März vorliegen. Dann werde sich auch zeigen, ob die Behörden bis an die Grenzen der Rechtsstaa­tlichkeit gegangen seien. Dies hatte NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) im Landtag betont. Jäger ist derzeit an Grippe erkrankt; ob er an der Sitzung des Innenaussc­husses am Donnerstag teilnehmen könne, sei unklar, hieß es.

Lersch-Mense bedauerte, dass es CDU und Piraten abgelehnt hätten, einen Gutachter durch den Landtag zu bestellen. Offenbar sei beiden Parteien im Vorfeld der Landtagswa­hl mehr an Skandalisi­erung als an Aufklärung gelegen. SPD und Grüne lehnten nicht grundsätzl­ich den Einsatz eines Parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­sses ab, wie er von der Opposition ins Spiel gebracht worden ist.

CDU-Chef Armin Laschet hatte auf die Einladung von Rot-Grün zu einem gemeinsame­n Gespräch erklärt: „Wenn die Ministerpr­äsidentin weiter keinen Anlass sieht, am Nichthande­ln ihres Innenminis­ters zu zweifeln, machen Gespräche über eine unabhängig­e Begutachtu­ng des Falles wenig Sinn.“Klar sei aber, dass der Landtag im Fall Amri Ort der Aufklärung sei und es auch bleiben müsse. „Kein unabhängig­er Gutachter der Welt kann aufklären, warum Innenminis­ter Jäger die Mittel, die er rechtlich hatte, nicht bereit war zu nutzen“, so Laschet. Piraten-Fraktionsc­hef Michele Marsching sagte, bei solchen Vorkommnis­sen dürfe die Kontrolle durch den Landtag „nicht über einen weiteren runden Tisch der Landesregi­erung auf die lange Bank geschoben werden.“Eine der vielen drängenden Fragen bleibe nach wie vor, „wieso die Sicherheit­sbehörden – insbesonde­re die in NordrheinW­estfalen – den Tunesier nicht in Haft genommen haben“. Abschiebeh­aft Die wohl größte Panne war, dass Amri am 1. August 2016 in Ravensburg aus der bereits begonnenen Abschiebeh­aft entlassen wurde, obwohl man ihn mit gefälschte­n Papieren und Haschisch festgenomm­en hatte. Der Grund: Die Ausländerb­ehörde in Kleve hatte mitgeteilt, man wisse nicht, wohin und wie man Amri abschieben könne. „Der Fund der gefälschte­n Papiere bestätigte, dass er seine Identität mutwillig geheimhalt­en wollte“, erklärt dazu der Düsseldorf­er Anwalt Julius Reiter. „Das hätte für eine weitere Haftdauer reichen müssen.“Der Direktor des Amtsgerich­ts Ravensburg, Matthias Grewe, bestätigt: „Wenn alle Informatio­nen vorgelegen hätten, dann halte ich es für sehr wahrschein­lich, dass der zuständige Richter eine längere Zurückhalt­ung in Haft angeordnet hätte.“ Meldeaufla­gen Obwohl Amri seit Oktober 2015 als möglicher Terrorist galt, hatte man ihm keine Wohnsitzau­flagen gemacht. Damit nahm man sich die Möglichkei­t von Sanktionen. „Beim Bruch von Meldeaufla­gen wäre eine Haft zeitweise möglich gewesen“, sagt Joachim Stamp, stellvertr­etender Vorsitzend­er der FDP-Landtagsfr­aktion in NRW. Innenminis­ter Jäger erklärt dagegen, man habe Amri keine Auflagen gemacht, um ihn besser beobachten zu können. Das ist aber das Gegenteil des Ausreizens aller juristisch­en Möglichkei­ten.

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FOTO: DPA Fahndungsf­otos von Anis Amri am 22. Dezember in einer Frankfurte­r Polizeiwac­he. Da war Amri noch auf der Flucht.

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