Montecristo
In dem Schweigen, das entstand, während sie auf den Finanzminister warteten, wurde Jonas sich des Geschirrklapperns, Gläserklingens und Gemurmels bewusst, das seit einiger Zeit schwach durch die geschlossenen Schiebetüren drang.
Die Tür ging auf, und Bundesrat Schublinger spazierte tatsächlich herein. Gemütlich, wie Jonas ihn vom Fernsehen kannte, und gefolgt von Herrn Rontaler, der vielleicht, dachte Jonas nun, ein Bundesratsweibel war.
Schublinger war ein mittelgroßer korpulenter Mann um die sechzig, kahl bis auf einen weißen Kranz aus längeren Haaren, die seinen kurzen Hals noch kürzer erscheinen ließen. Er kam auf Jonas zu und reichte ihm eine warme weiche Hand. „Herr Brand!“, rief er aus, als wäre es die Eröffnung einer längeren Begrüßungsansprache, deren Fortsetzung ihm leider entfallen war.
Sein Chefbeamter sprang ein. „Herr Brand ist der erste Filmregisseur bei den Lilien, Herr Bundesrat.“
„Gratuliere. Ich dachte, es gäbe schon Vertreter der Filmbranche.“„Ja, aber noch keine Regisseure.“„Ach so, ja, richtig, stimmt.“Dem Bundesrat war der Gesprächsstoff ausgegangen, und seine Gedanken schienen abzudriften. Aber dann sagte er unvermittelt: „Das ist eine prima Sache, dieser Lilienkreis. Prima Sache. Unterstütze ich. Gerne.“
Die beiden Herren nickten. Und Jonas nickte auch und hoffte, dass man ihm seine Ratlosigkeit nicht ansah.
Der Bundesrat breitete die Arme aus, als wende er sich an ein größeres Publikum, und rief aus: „Dann würde ich sagen, auf in den Kampf, Torero!“
Der Weibel ging zur Schiebetür, Schublinger nahm Jonas’ Arm und dirigierte ihn, Gobler und Anderfeld folgten ihnen.
Es entstand eine kleine Verzögerung, während Herr Rontaler die Schiebetüren öffnete.
Das Stimmengewirr wurde erst lauter und verstummte plötzlich.
Jonas Brand stand neben Bundesrat Schublinger in der offenen Schiebetür, flankiert vom Direktor der Finanzverwaltung und dem Präsidenten der Nationalbank.
Im Saal befanden sich ein paar Dutzend Gäste, alle mit einem Glas in der Hand, in das Kellner mit weißen Jacketts und schwarzen Fliegen Rot- und Weißweine aus verschiedenen Staatsgütern nachschenkten. Schwarzgekleidete Saaltöchter mit weißen Krägelchen und Schürzchen boten Fingerfood auf Silbertabletts an.
Alle Gesichter waren ihnen zugewandt, es sah aus wie ein eingefrorenes Video.
Es schien keinen Dresscode zu geben, wohl wegen der Kurzfristigkeit der Einladung. Ein paar wenige der Gäste trugen Cocktailkleider oder dunkle Anzüge, andere befanden sich im Freizeitlook, wieder andere sahen aus, als kämen sie direkt von der Arbeit.
Ein paar Gesichter kamen Jonas bekannt vor. Vielleicht aus den Medien, vielleicht war er ihnen schon bei der Arbeit begegnet. Einige waren Politiker und Prominente aus Wirtschaft und Gesellschaft, er hatte mit ihnen schon zu tun gehabt.
Bundesrat Schublinger wandte sich mit der Lautstärke und Selbstsicherheit eines Mannes, der es gewohnt ist, vor Publikum zu sprechen, an die Anwesenden. „Meine Damen und Herren. Ich freue mich, dass Sie sich so kurzfristig und zahl- reich und zu so später Stunde eingefunden haben. Es ist mir eine außerordentliche Ehre, Ihnen den ersten Filmregisseur in unserem Kreis vorzustellen: Herrn“– er brauchte eine Sekunde – „Jonas . . . Brand.“
Das eingefrorene Bild geriet wieder in Bewegung. Die Gäste lachten und applaudierten, so gut es ihnen mit Glas und Fingerfood gelang.
Dann setzten sie ihren Smalltalk fort.
Barbara Contini, die Witwe des Traders, hing an Jack Heinzmanns Lippen, dessen früherem Arbeitskollegen.
Hans Bühler, der Handballer und Chef des Trading Floors, wandte sich wieder Adam Dillier zu, dem DEO der Notendruckerei.
William Just, CEO der General Confederate Bank of Switzerland, GCBS, elegant wie immer, lachte wieder mit Heiner Stepler, dem Fernsehchefredakteur, und Lili Eck, Jonas’ Produktionsassistentin.
Konrad Stimmler, Präsident der Schweizerischen Bankenaufsicht, konzentrierte sich wieder auf Jean Seibler, den CEO der Swiss International Bank, SIB.
Die Chefredakteurin von Highlife unterhielt sich angeregt mit Karin Hofstettler, der Pressesprecherin der GCBS.
Aus einem Grüppchen mit Jeff Rebstyn, seinem Produzenten, Serge Cress, dem Geschäftsführer von Moviefonds, und Tommy Wipf, seinem Regieassistenten, löste sich die Gestalt einer großen schlanken Frau mit asiatischen Gesichtszügen.
Sie kam lächelnd auf ihn zu und hob die Schultern.
Als wollte sie sich für etwas Entschuldbares entschuldigen.
Vor der Tür stand ein kurzgeschorener Mann in einem dunklen Anzug. Er trug einen Kopfhörer im lin- ken Ohr. – „Die Toilette, bitte?“, fragte Jonas. Der Mann wies ihm die Richtung. Jonas ging durch den langen Korridor. Aber als er die Tür der Toilette, in der er sich frisch gemacht hatte, erreichte, ging er weiter. Der Türsteher setzte sich in Bewegung, Jonas hörte die Schritte hinter sich.
Er bog um die Ecke des Korridors und eilte zur Tür des kleinen Raums, in den ihn die Polizisten gebracht hatten. Er ging hinein und verließ ihn durch die zweite Tür.
Jonas fand den Aufzug, in dem er heraufgebracht worden war. Daneben befand sich eine Tür. Sie führte in ein Treppenhaus.
Drei Etagen tiefer stieß er auf eine Glastür. „Notausgang“stand in roter Schrift darüber. Jonas trat hinaus.
Er befand sich auf der Rückseite eines gesichtslosen Bürogebäudes. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Schnee war noch nicht geräumt.
Jonas überquerte die Straße und stapfte auf dem gegenüberliegenden Trottoir bis zu einer Kreuzung. Von dort aus hörte er den Lärm des schweren Geräts, das eine der Hauptstraßen räumte.
Jonas war kalt. Die Windjacke hatte er in Goblers Büro zurückgelassen. Seine Fäuste steckten tief in den Hosentaschen, und er ging rasch mit eingezogenem Kopf durch die winterliche Stadt.
Er wollte nirgendwo hin. Er wollte nur weg. Weg von dieser Schmach. Weg von der Lächerlichkeit, der er sich preisgegeben hatte. Weg von Marina.
Marina, die sich nicht genug über Max als Verschwörungstheoretiker lustig machen konnte, war selbst Teil dieser Verschwörung!
(Fortsetzung folgt)