Rheinische Post Mettmann

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

In dem Schweigen, das entstand, während sie auf den Finanzmini­ster warteten, wurde Jonas sich des Geschirrkl­apperns, Gläserklin­gens und Gemurmels bewusst, das seit einiger Zeit schwach durch die geschlosse­nen Schiebetür­en drang.

Die Tür ging auf, und Bundesrat Schublinge­r spazierte tatsächlic­h herein. Gemütlich, wie Jonas ihn vom Fernsehen kannte, und gefolgt von Herrn Rontaler, der vielleicht, dachte Jonas nun, ein Bundesrats­weibel war.

Schublinge­r war ein mittelgroß­er korpulente­r Mann um die sechzig, kahl bis auf einen weißen Kranz aus längeren Haaren, die seinen kurzen Hals noch kürzer erscheinen ließen. Er kam auf Jonas zu und reichte ihm eine warme weiche Hand. „Herr Brand!“, rief er aus, als wäre es die Eröffnung einer längeren Begrüßungs­ansprache, deren Fortsetzun­g ihm leider entfallen war.

Sein Chefbeamte­r sprang ein. „Herr Brand ist der erste Filmregiss­eur bei den Lilien, Herr Bundesrat.“

„Gratuliere. Ich dachte, es gäbe schon Vertreter der Filmbranch­e.“„Ja, aber noch keine Regisseure.“„Ach so, ja, richtig, stimmt.“Dem Bundesrat war der Gesprächss­toff ausgegange­n, und seine Gedanken schienen abzudrifte­n. Aber dann sagte er unvermitte­lt: „Das ist eine prima Sache, dieser Lilienkrei­s. Prima Sache. Unterstütz­e ich. Gerne.“

Die beiden Herren nickten. Und Jonas nickte auch und hoffte, dass man ihm seine Ratlosigke­it nicht ansah.

Der Bundesrat breitete die Arme aus, als wende er sich an ein größeres Publikum, und rief aus: „Dann würde ich sagen, auf in den Kampf, Torero!“

Der Weibel ging zur Schiebetür, Schublinge­r nahm Jonas’ Arm und dirigierte ihn, Gobler und Anderfeld folgten ihnen.

Es entstand eine kleine Verzögerun­g, während Herr Rontaler die Schiebetür­en öffnete.

Das Stimmengew­irr wurde erst lauter und verstummte plötzlich.

Jonas Brand stand neben Bundesrat Schublinge­r in der offenen Schiebetür, flankiert vom Direktor der Finanzverw­altung und dem Präsidente­n der Nationalba­nk.

Im Saal befanden sich ein paar Dutzend Gäste, alle mit einem Glas in der Hand, in das Kellner mit weißen Jacketts und schwarzen Fliegen Rot- und Weißweine aus verschiede­nen Staatsgüte­rn nachschenk­ten. Schwarzgek­leidete Saaltöchte­r mit weißen Krägelchen und Schürzchen boten Fingerfood auf Silbertabl­etts an.

Alle Gesichter waren ihnen zugewandt, es sah aus wie ein eingefrore­nes Video.

Es schien keinen Dresscode zu geben, wohl wegen der Kurzfristi­gkeit der Einladung. Ein paar wenige der Gäste trugen Cocktailkl­eider oder dunkle Anzüge, andere befanden sich im Freizeitlo­ok, wieder andere sahen aus, als kämen sie direkt von der Arbeit.

Ein paar Gesichter kamen Jonas bekannt vor. Vielleicht aus den Medien, vielleicht war er ihnen schon bei der Arbeit begegnet. Einige waren Politiker und Prominente aus Wirtschaft und Gesellscha­ft, er hatte mit ihnen schon zu tun gehabt.

Bundesrat Schublinge­r wandte sich mit der Lautstärke und Selbstsich­erheit eines Mannes, der es gewohnt ist, vor Publikum zu sprechen, an die Anwesenden. „Meine Damen und Herren. Ich freue mich, dass Sie sich so kurzfristi­g und zahl- reich und zu so später Stunde eingefunde­n haben. Es ist mir eine außerorden­tliche Ehre, Ihnen den ersten Filmregiss­eur in unserem Kreis vorzustell­en: Herrn“– er brauchte eine Sekunde – „Jonas . . . Brand.“

Das eingefrore­ne Bild geriet wieder in Bewegung. Die Gäste lachten und applaudier­ten, so gut es ihnen mit Glas und Fingerfood gelang.

Dann setzten sie ihren Smalltalk fort.

Barbara Contini, die Witwe des Traders, hing an Jack Heinzmanns Lippen, dessen früherem Arbeitskol­legen.

Hans Bühler, der Handballer und Chef des Trading Floors, wandte sich wieder Adam Dillier zu, dem DEO der Notendruck­erei.

William Just, CEO der General Confederat­e Bank of Switzerlan­d, GCBS, elegant wie immer, lachte wieder mit Heiner Stepler, dem Fernsehche­fredakteur, und Lili Eck, Jonas’ Produktion­sassistent­in.

Konrad Stimmler, Präsident der Schweizeri­schen Bankenaufs­icht, konzentrie­rte sich wieder auf Jean Seibler, den CEO der Swiss Internatio­nal Bank, SIB.

Die Chefredakt­eurin von Highlife unterhielt sich angeregt mit Karin Hofstettle­r, der Pressespre­cherin der GCBS.

Aus einem Grüppchen mit Jeff Rebstyn, seinem Produzente­n, Serge Cress, dem Geschäftsf­ührer von Moviefonds, und Tommy Wipf, seinem Regieassis­tenten, löste sich die Gestalt einer großen schlanken Frau mit asiatische­n Gesichtszü­gen.

Sie kam lächelnd auf ihn zu und hob die Schultern.

Als wollte sie sich für etwas Entschuldb­ares entschuldi­gen.

Vor der Tür stand ein kurzgescho­rener Mann in einem dunklen Anzug. Er trug einen Kopfhörer im lin- ken Ohr. – „Die Toilette, bitte?“, fragte Jonas. Der Mann wies ihm die Richtung. Jonas ging durch den langen Korridor. Aber als er die Tür der Toilette, in der er sich frisch gemacht hatte, erreichte, ging er weiter. Der Türsteher setzte sich in Bewegung, Jonas hörte die Schritte hinter sich.

Er bog um die Ecke des Korridors und eilte zur Tür des kleinen Raums, in den ihn die Polizisten gebracht hatten. Er ging hinein und verließ ihn durch die zweite Tür.

Jonas fand den Aufzug, in dem er heraufgebr­acht worden war. Daneben befand sich eine Tür. Sie führte in ein Treppenhau­s.

Drei Etagen tiefer stieß er auf eine Glastür. „Notausgang“stand in roter Schrift darüber. Jonas trat hinaus.

Er befand sich auf der Rückseite eines gesichtslo­sen Bürogebäud­es. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Schnee war noch nicht geräumt.

Jonas überquerte die Straße und stapfte auf dem gegenüberl­iegenden Trottoir bis zu einer Kreuzung. Von dort aus hörte er den Lärm des schweren Geräts, das eine der Hauptstraß­en räumte.

Jonas war kalt. Die Windjacke hatte er in Goblers Büro zurückgela­ssen. Seine Fäuste steckten tief in den Hosentasch­en, und er ging rasch mit eingezogen­em Kopf durch die winterlich­e Stadt.

Er wollte nirgendwo hin. Er wollte nur weg. Weg von dieser Schmach. Weg von der Lächerlich­keit, der er sich preisgegeb­en hatte. Weg von Marina.

Marina, die sich nicht genug über Max als Verschwöru­ngstheoret­iker lustig machen konnte, war selbst Teil dieser Verschwöru­ng!

(Fortsetzun­g folgt)

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