Rheinische Post Mettmann

Ein letzter Dienst an der Partei

- VON MICHAEL BRÖCKER

Sigmar Gabriel konnte das Ruder nicht herumreiße­n. Die SPD steckt acht Jahre nach i hrer historisch­en Niederlage bei der Bundestags­wahl erneut i m 20-Prozent-Turm fest. Wie betoniert. Gabriels Verzicht auf die Kanzlerkan­didatur und den Parteivors­itz ist überrasche­nd, aber konsequent. Wenn man geht, dann richtig. Erst das Land, dann die Partei, dann erst ich, mag Gabriel gedacht haben. Seine Umfragewer­te sind seit Jahren unterirdis­ch, in der Partei wie im Rest der Republik. Martin Schulz dagegen steht etwas besser da. Und er segelt unter dem Wind des Neulings auf der Berliner Bühne.

Sigmar Gabriel hat sich stets gefragt, warum er nicht ankommt. Aber er hat es erkannt und seine Schlüsse daraus gezogen, was i m politische­n Berlin selten ist. Selbst die SPD hat ihn geduldet, nie geliebt. Dankbarkei­t ist kein Kriterium bei Genossen. Immerhin hatte sich der Lehrer aus Goslar in die Pf licht nehmen lassen. Er einte die Partei, verhandelt­e mit der Merkel-Union, die fast eine absolute Mehrheit erreicht hatte, hart und erfolgreic­h. Merkels zweite große Koalition war ein Linksbündn­is. Mindestloh­n, Rente mit 63, Lohngleich­heit, Kitaausbau. Nie war eine 20Prozent-Partei so mächtig wie unter Gabriel. Aber an seinen eigenen Führungsan­sprüchen ist er immer wieder gescheiter­t. Politik ist Führen und Sammeln, hat er selbst mal gesagt. Gabriel vergaß das Sammeln und führte in viele Richtungen, nicht in eine. Etwa in der Flüchtling­spolitik.

Die Partei wollte dem kommunikat­iv unberechen­baren Gabriel nicht folgen. Sie strafte ihn beim Parteitag 2015 mit seinem schlechtes­ten Ergebnis ab. Schon damals wollte Gabriel hinwerfen. Nun geht er zwei Jahre später. Und er hat einen weiteren Grund: Es gibt Wichtigere­s als Politik. Familie zum Beispiel. Der j unge (und werdende) Vater will öfter zu Hause sein. Das ist respektabe­l. Man muss es ihm abnehmen. nd der Neue? Der kann der Union durchaus gefährlich werden. Entspreche­nd gedämpft waren gestern die Reaktionen bei CDU und CSU. Martin Schulz ist in jeder Faser seines Körpers Politiker. Eine Rampensau, ein leidenscha­ftlicher Streiter. Schon als Linksverte­idiger bei Rhenania 05 Würselen war er der Spieler, der mit dem schmutzigs­ten Shirt vom Feld ging. So einer ist eine Chance für die SPD. Schulz kann reden, seine Aufsteiger­vita – zweiter Bildungswe­g, Verletzung­en, Alkoholpro­bleme, Buchhändle­rlehre, EU-Parlaments­präsident – ist eine Geschichte wie aus dem sozialdemo­kratischen Lehrbuch. Der Mann der zweiten Chancen.

Mit der Nominierun­g Schulz’ hat die SPD für eine Überraschu­ng gesorgt. Schulz wird dieses Momentum nutzen wollen. Dass er nicht in den Kulissen der Berliner Republik agierte, muss nicht entscheide­nd sein. Das Brüsseler Parkett ist auch glitschig. Sein Narrativ wird Europa sein, das große Thema in einem Brexit-Trump-Le-Pen-Jahr. Damit hätte die SPD schon mal mehr zu bieten als im Wahlkampf 2009 und 2013. Was Martin Schulz in der Innenpolit­ik will, weiß indes keiner. Wie soll der Wohlstand gesichert werden? Digitale Bildung, Innovation­skultur, nachhaltig­e Finanzpoli­tik. Dazu von Schulz selten ein Wort. Gabriel wollte die Deutungsho­heit über eine starke, aber solidarisc­he Gesellscha­ft zurückgewi­nnen und ist doch im Regierungs­alltag in der Rolle des Klempners für den angestaubt­en Sozialstaa­t hängengebl­ieben. Verantwort­ung, Freiheit sind Begriffe, die kaum einer mit der SPD verbindet. Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen reicht da aus. Martin Schulz muss sich zu all dem erstmal positionie­ren. Auch zur Causa Rot-Rot-Grün natürlich.

Paradox: Hannelore Kraft wollte ihn nicht, aber am Ende könnte die Wahlkämpfe­rin doch von der Wende profitiere­n. Ein Aachener als Kanzlerkan­didat gibt der beladenen SPD an Rhein und Ruhr neuen Auftrieb.

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