„Trotz allem: Gabriel war der bessere Kandidat“
HANNOVER Er gehört zu den großen linken Intellektuellen der Bundesrepublik: der Sozialphilosoph Oskar Negt (82), ein Zögling der Frankfurter Schule, der die SPD immer wieder unterstützt hat. Auch er wurde von den Ereignissen des gestrigen Tages überrascht. War Gabriels Rücktritt eine gute Entscheidung? NEGT Nein, denn ich glaube, dass Gabriel trotz allem der bessere Kandidat war. Ich habe mich auch deshalb für ihn immer eingesetzt, weil er allein durch seine körperliche Gewichtigkeit so etwas wie Verlässlichkeit und Tradition präsentieren konnte. Dass das bei dem viel pfiffigeren Schulz nicht der Fall ist, wird sich auch daran zeigen, dass er die Misere nicht abwenden wird. Was bedeutet der Kandidatentausch für die Sozialdemokraten? NEGT Ach, wissen Sie, der Erfolg einer Wahl hängt nicht mehr vom Kandidaten ab, weil ja das ganze Parteiensystem ins Rutschen gekommen ist. Wir erleben momentan eine Erosionskrise, bei der sich alte Loyalitäten und alte Bindungen auflösen. Die Verwahrlosung politischer Sitten gehört zu diesem Erosionsprozess – siehe Donald Trump. Im Grunde ist es egal, wen man zur Wahl stellt; er muss nur irgendwie alternativ sein und darf nicht das alte System vertreten. Was sind die Ursachen dafür, und was sind vor allem die Folgen? NEGT Indem der Kapitalismus solche Bindungen zerstört, werden natürlich Voraussetzungen für die Entwicklung von präfaschistischen Potenzialen geschaffen, die nicht mehr die alten Bindungen wollen. Wir befinden uns kulturell in einer ungeheuren Suchbewegung. Wie kann sich eine alte Partei wie die SPD da überhaupt behaupten? NEGT Das ist schwierig – zumal eine Analyse unserer Gegenwart von drei Entwertungen dominiert wird: der Entwertung der Erinnerung, der Entwertung der Bindungen und der Entwertung kollektiver Entwicklungen. Dadurch entsteht in der Gesellschaft ein ungeheures Unruhepotenzial, weil man nach neuen Bindungen Ausschau hält. Und die AfD ist ein solches Angebot. Wie man aus dieser Situation wieder herauskommt, da bin ich überfragt. Man muss dieses zerstörerische System, das man Kapitalismus nennt, wieder näher betrachten. Wobei ich glaube, dass diese zerstörerische Seite derzeit etwas Selbstzerstörerisches an sich hat. Das zu erkennen, wäre die erste Bedingung dafür, die soziale Kälte, die die Menschen derzeit bewegt, wirksam zu bekämpfen. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.