Karnevalskostüme vom Nachbarn
Rockabilly, Burlesque und Vintage: In der Innenstadt von Roermond bieten Boutiquen extravagante Mode an, die hervorragend als Karnevalskostüm taugt. Unsere Autorin hat die Sachen anprobiert.
ROERMOND In „Alice im Wunderland“gibt es ganz zu Beginn diese Szene, in der Alice einem kleinen weißen Kaninchen in seinen Bau folgt und dann kopfüber in eine andere Welt purzelt, in ein Wunderland eben. So ähnlich fühlt es sich an, wenn man den Laden von Ivo van Hinsberg betritt. In einer Seitenstraße der beschaulichen Innenstadt von Roermond befindet sich das Geschäft „Zig Zag“, das von außen schon anders aussieht als die anderen Geschäfte in der adretten Nachbarschaft und von innen erst recht. Das Schaufenster ist mit schwarzen Kleidern zugehängt, sodass man nicht ins Innere des Ladens blicken kann. Puppen in Gothic-Montur stehen mit düsteren Mienen rechts und links neben der Eingangstür.
Doch drinnen schlagen die Herzen all jener schneller, die den großen Auftritt lieben. Der Laden wirkt übervoll mit Stoff, Tüll und Klimbim – und trotzdem hat das Chaos System. Auf den Stangen hängen Ballkleider, die von schillernd zu punkig aufgemotzt wurden. Es gibt lange Mäntel aus Seide, Cord und Leder, die schwer auf den Schultern liegen und ihren Träger in einen Könner, Kaiser oder Krösus verwandeln. Auf den Regalen an der Decke stapeln sich Hüte, von denen keiner aussieht wie der andere, und Haarschmuck aus Federn, Hörnern, Elfenohren und Drahtgeflechten.
Ein Ausflug lohnt sich für die Jecken vom Rhein, denn das „Zig Zag“ist nicht die einzige Adresse für abgefahrene Kostüme in Roermond. Eine knappe beziehungsweise eine gute Stunde fährt man von den Karnevalshochburgen Düsseldorf und Köln bis in die charmante Stadt kurz hinter der holländischen Grenze. Wer dort bei einem Tagesausflug durch die Innenstadt spaziert, entdeckt noch andere Geschäfte, die Vintagemode in extravagante Kostüme verwandeln.
Ivo van Hinsberg findet seine Einzelstücke an den verschiedensten Orten: im Fundus von Theater- und Opernhäusern, in den Garderoben von Musikkapellen und Spielmannszügen, in Kellern und auf Dachböden. Allerdings bleibt kein Teil, wie es war. Bloß Second-HandMode zu verkaufen, das ist ihm zu einfach. Die Kleidung wird verziert, gekürzt, aufgerissen und mit anderen Stoffen zusammengetackert. „Ich mag es, Leute einzukleiden, die eine Macke haben. Die trauen sich mehr. Wer keine Macken hat, hat auch nicht richtig gelebt“, sagt van Hinsberg. Obwohl der 47-Jährige eigentlich ein Typ ist, den man sofort duzen möchte, besteht er auf dem Sie. Für ihn sind seine Kunden Könige. Und Könige siezt man. Im Hand- umdrehen zaubert er eine Stoffbluse hervor, die aussieht, als wäre sie ein Original aus den 20er Jahren. Er hilft einem in den Rock, schnürt die Korsage, bastelt einen Hut aus einer alten Taschenuhr, Federn und einer futuristischen Brille. Zwischen 200 und 250 Euro kostet so ein komplettes Steampunk-Outfit, Einzelteile gibt es schon ab zehn Euro.
Van Hinsberg ist gelernter Maschinenhandwerker, hat an der Kunstakademie studiert und pflegt eine ansteckende Leidenschaft für Steampunk und Burlesque. Mode und Mechanik miteinander zu kombinieren, liegt ihm im Blut. Als er vor 15 Jahren das Hutgeschäft übernahm, war ihm schnell klar, dass es mehr als das werden musste. Inzwischen kommen Kunden von weit her, um sich bei van Hinsberg für Festivals, Szene-Events, den exzentrischen Auftritt im Alltag oder Karneval einzukleiden.
In anderen Geschäften in Roermond finden sich auch die Klassiker unter den Kostümen: Clown, Pirat, Cowboy, Froschkönig. Vor allem Kinder werden hier fündig. Erwach- sene auf der Suche nach einer Verkleidung sollten sich von Totenschädeln und ausgestopften Tieren im Schaufenster nicht abschrecken lassen. Im Inneren findet sich oft ein Wunderland aus Tüll und Stoff, das einen auf neue Ideen für die jecken Tage bringt. Diese Ideen können dann auch direkt umgesetzt werden. Der Karnevalsladen „Incognito“eröffnet beispielsweise jedes Jahr an anderer Stelle in der Stadt eine Dependance mit eigener Kleider-Werkstatt, in der Kunden sich auf Wunsch individuelle Kostüme nach Maß schneidern lassen können. Dieses Jahr befindet sich die Zweigstelle in der Hamstraat 16 in Roermond.
Ein riesiges Ballkleid in Neonfarben mit einer Burlesque-Maske und Handschuhen aus schwarzer Spitze kombiniert, ist für die Kneipe vielleicht eher unpraktisch. Schließlich schiebt es sich mit einem Reifrock eher beschwerlich an die Theke. Auf einer Prunksitzung garantiert es aber einen Prinzessinnen-Auftritt erster Güte. Prinzessin made in Roermond eben.