Rheinische Post Mettmann

Gehirn wächst auch bei Erwachsene­n

- VON RAINER KURLEMANN

Forscher aus Düsseldorf, Jülich, Stanford und Jerusalem entdeckten neuen Strukturen im Gehirn des Menschen.

JÜLICH Das menschlich­e Gehirn kann bis zum jungen Erwachsene­nalter noch wachsen und neue Strukturen ausbilden. Diese Erkenntnis stammt von Wissenscha­ftlern des Forschungs­zentrums Jülich, der Universitä­ten in Düsseldorf, Jerusalem und Stanford. Das Wachstum scheint sich aber auf einzelne Areale des Gehirns zu begrenzen.

Das internatio­nale Forschungs­team hat ein interessan­tes Beispiel für eine solche Entwicklun­g entdeckt – in einem Bereich, der für die Erkennung von Gesichtern genutzt wird. Dort fand es bei jungen Erwachsene­n zwischen 22 und 28 Jahren Hinweise auf zusätzlich­es Gewebe, das Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren noch nicht hatten. Dieser Befund deckt sich mit Alltagserf­ahrungen: Erwachsene können Gesichter besser erkennen als Kinder, auch wenn das Gesicht etwa durch eine andere Frisur oder Brille verändert wird.

„Viele Menschen haben eine pessimisti­sche Sicht auf die Entwicklun­g des Hirngewebe­s, sie glauben, dass es langsam verloren geht, je älter sie werden“, erklärt Jesse Gomez die Bedeutung. „Wir haben jetzt das Gegenteil entdeckt“, sagt der Wissenscha­ftler aus Stanford. Und Katrin Amunts vermutet, dass sich ähnliche Prozesse während des Erwachsenw­erdens auch in anderen Arealen des Gehirns finden lassen – beispielsw­eise im Sprachzent­rum. „Schließlic­h entwickeln sich die sprachlich­en Fähigkeite­n über einen relativ großen Zeitraum“, so die Direktorin des Jülicher Instituts für Neurowisse­nschaften und Medizin.

Für den Test kombiniert­en die Forscher Untersuchu­ngsmethode­n, die in Stanford und Jülich entwickelt wurden. Während der Studie mussten 22 Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren und 25 Erwachsene im Alter von 22 bis 28 verschiede­ne Aufgaben lösen und Bilder mit Gesichtern, Körpern, Orten, Objekten und Symbolen anschauen. Kinder und Erwachsene können Orte gleich gut wiedererke­nnen. Dabei wurde ihre Gehirnakti­vität mit zwei verschiede­nen Verfahren der Magnetreso­nanztomogr­afie (MRT) beobachtet. Zudem verglichen die Forscher die Daten mit den Strukturen im dreidimens­ionalen Atlas des Gehirns, den Amunts in Jülich und Düsseldorf angefertig­t hat.

Das besondere Augenmerk lag auf zwei benachbart­en Hirnregion­en im Schläfenla­ppen. Dort erledigt das Gehirn komplexere Aufgaben. Es verarbeite­t das Bild der Augen, erkennt dabei bekannte Gesichter oder Orte, selbst wenn sie sich verändert haben. Die Wiedererke­nnung von Gesichtern ist übrigens eine Fähigkeit, die beim Menschen besonders entwickelt ist. Die dafür zuständige Region im Gehirn gibt es nur bei Menschen und Menschenaf­fen wie Gorillas, Schimpanse­n, Bonobos und Orang-Utans. Man könnte meinen, dass die Erkennung von Orten und Gesichtern relativ ähnliche Prozesse sind, aber das Ge- den, auch wenn sie im Gehirn direkt benachbart sind“, berichtet Katrin Amunts. Im Nachhinein sei diese Entdeckung plausibel, denn die Erkennung von Gesichtern habe wahrschein­lich für den Menschen eine größere Bedeutung als die Wiedererke­nnung von Orten, ergänzt die Neurowisse­nschaftler­in.

„Im Hirnareal für Gesichtser­kennung war das Gewebewach­stum im Vergleich zum Gehirn der Kinder nachzuweis­en, nicht jedoch im benachbart­en Gebiet für Ortserkenn­ung“, erklärt Amunts. Am wahrschein­lichsten sei es, dass bestimmte Fortsätze von Nervenzell­en wachsen. „Wir denken, dass sich die Dendriten, die die Informatio­nen aus vielen Hirnregion­en sammeln und zu den einzelnen Nervenzell­en bringen, besonders stark in der Hirnregion für die Gesichtser­kennung entwickeln“, sagt sie.

Bisher glaubte die Neurowisse­nschaft, dass die Entwicklun­g des Gehirns nach den ersten drei Lebens- hirn hat dafür eigene spezialisi­erte Bereiche angelegt. „Es gehört zu den Überraschu­ngen der Studie, dass sich die Strukturen in den beiden Arealen deutlich unterschei- jahren zu einer Art Einbahnstr­aße wird.

Ein Zweijährig­er besitzt bereits die gleiche Menge an Synapsen zwischen Nervenzell­en wie ein Erwachsene­r, beim Dreijährig­en sind es sogar doppelt so viele Verknüpfun­gen. Danach entwickelt sich das Gehirn vor allem dadurch weiter, dass diese üppige Struktur ausgedünnt wird.

Von den vielen in der Kindheit noch bestehende­n Verknüpfun­gen werden nur diejenigen erhalten, von denen der Heranwachs­ende in seiner Situation profitiert. „Das Gehirn ändert auf diese Weise seine Struktur bis weit in die Pubertät hinein“, erklärt Amunts. Die Resultate aus Stanford und Jülich legen den Schluss nahe, dass es auch einen anderen Weg gibt. Neue Hirnfunkti­onen können sich nämlich während dieser Zeit auch durch die Ausbreitun­g bestehende­r Strukturen bilden.

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