Die Diamanten von Nizza
Das lässt drei mögliche Schlussfolgerungen zu. Die erste: Der oder die Täter waren Bekannte der Castellacis, die sich genau im Haus auskannten und auch wussten, dass sie an diesem Abend ausgehen würden. In dieser Richtung gestalten sich die Recherchen extrem schwierig, weil besonderes Ettore Castellaci sich weigert, seine Geschäftspartner und Freunde polizeilichen Nachforschungen auszusetzen, was begreiflich ist.
Die zweite: Die Castellacis haben sich selbst ausgeraubt. Das nachzuweisen, bräuchte es handfeste Beweise, denn jedermann fragt sich sofort: Warum sollen Menschen, die sich eine solche Villa und solche Schmuckstücke leisten können, sich in Gefahr begeben, bei einem Verbrechen erwischt zu werden. Castellaci gilt als knallharter, aber vorsichtiger und aufrechter Geschäftsmann, keine Steuertrickserei, nichts.
Und die dritte Möglichkeit: Es waren Profis am Werk, die sich auskennen, ein Gespür haben, wo die Überwachungskameras installiert sind, wo sie ausgeschaltet werden können. Natürlich ist dies bisher die plausibelste Erklärung.“
„Die Castellacis sind also mehr oder weniger aus dem Schneider. Was ist mit dem Polizeibericht?“, erkundigte sich Elena.
Madame Duplessis zuckte die Achseln. „Nichts. Keine Finger- oder Fußabdrücke, keinerlei Anhaltspunkte. Hélas, der Dieb hat es versäumt, seine Adresse zu hinterlassen.“
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, die Versicherungspolice zu durchforsten, Zeile für Zeile, auf der Suche nach einer Ausnahmeklausel, die sich vor Gericht aufrechterhalten ließe. Doch am Ende musste Elena zugeben, dass sie nichts dergleichen gefunden hatte.
Madame Duplessis begleitete sie zum Fahrstuhl. „Es sieht nicht besonders rosig für uns aus, oder?“
Elena nickte zögernd. „Sieht so aus. Ich fürchte, wir müssen zahlen, es sei denn, ich stoße auf irgendwelche Ungereimtheiten, wenn ich den Castellacis in Nizza einen Besuch abstatte.“
Auf dem Rückweg ins Hotel stellte Elena fest, dass es in Paris schon fast sechs Uhr abends war – und ungefähr zwölf Uhr mittags auf Jamaika. Sie würde Sam anrufen und sich danach ein Glas Wein genehmigen. Oder besser in umgekehrter Reihenfolge: zuerst etwas trinken nach dem grauenvollen Tag und danach anrufen.
Immer, wenn sie im Montalembert abstieg, einem typischen Haussmann-Gebäude im Herzen des alten Künstlerviertels SaintGermain-des-Prés, knappe zehn Gehminuten vom Louvre entfernt, fühlte sie sich entspannt, sobald sie auch nur einen Fuß in die Lobby setzte. Das Personal war zuvorkommend, die Bar einladend und das unverzüglich eintreffende Glas Champagner Balsam für die Seele. In ihrem Hotelzimmer lehnte sie sich auf einem weichen Fauteuil zurück, starrte auf das Fenster, an dem Regentropfen perlten, und rief Sam in Jamaika an.
„Ich könnte eine Aufmunterung brauchen.“„So schlimm, Elena?“„Ich hatte schon Tage, die besser anfingen. Die Klienten rufen jeden Tag an, machen ein Mordstheater wegen ihres Schadenersatzes, und die Polizei hat nichts, worauf sie sich bei ihren Ermittlungen stützen könnte – keine Fingeroder Fußabdrücke, keine Einbruchspuren, keine Indizien. Im Augenblick habe ich das Gefühl, die Reise hierher war reine Zeitverschwendung.“„Kennst du die Klienten?“„Nein. Warum fragst du?“„Nun, wenn es keinerlei Hinweise auf einen Einbruch gibt, wenn alles so astrein ist, wie sie behaupten, könnte es sich um das Werk von Insidern handeln, sprich: um einen vorgetäuschten Einbruch. Dergleichen soll schon vorgekommen sein. Du solltest dich als Erstes mit deinen Klienten treffen und dir selbst ein Bild machen, was von diesen Leuten zu halten ist.“„Das hat mir Frank Knox auch schon gesagt. Deswegen fliege ich jetzt ja weiter nach Marseille; und von dort geht’s nach Nizza.“„Ach, bevor ich es vergesse, ich habe mit Francis gesprochen, er erwartet dich in Marseille. Ruf ihn einfach an und sag ihm, wann du eintriffst. Ich komme in ein paar Tagen. Übrigens, wo bist du gerade?“„In der Bar des Montalembert“, log sie. Ein bisschen Sorgen machen sollte er sich ruhig. „Sag ihnen, sie sollen Musik auflegen. Und sprich nicht mit fremden Männern, ja? Man hört nur Schlechtes über diese Herrschaften, die sich allein in Bars herumtreiben. Und versuch, dir keine Sorgen zu machen. Ich vermisse dich.“Am nächsten Morgen, als sie ihren Jetlag durch Schlaf weitgehend wettgemacht und sich ein üppiges Frühstück im Bett mit Croissants und café crème gegönnt hatte, bestieg Elena das Flugzeug, das sie in einer Dreiviertelstunde nach Marseille brachte. Nach der trübselig grauen Wolkendecke in Paris wirkte der Himmel über der Provence bei- nahe erschreckend blau. Als sie in der Ankunftshalle des Flughafens Marignane stand und in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille kramte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Und da war er auch schon, ihr Gastgeber Francis Reboul, unaufdringlich gebräunt und elegant in seinem hellen Leinenanzug, Seite an Seite mit seinem Chauffeur Olivier. Nach dem Austausch stürmischer Umarmungen warteten Elena und Reboul draußen in der Sonne, während Olivier den Wagen holte. „Ich habe hervorragende Neuigkeiten für Sie, meine Liebe.“Reboul zog einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Elena. „Von meinem neuen besten Freund, dem Notar, der mit der Erledigung der Formalitäten bezüglich Ihres Hauses beauftragt wurde. Alles ist in trockenen Tüchern, der Verkauf kann jetzt über die Bühne gehen. Herzlichen Glückwunsch!“„Francis, das ist ja wunderbar! Ich wusste gar nicht, dass Sie sich mit dem Notar angefreundet haben. Wie kam denn das?“„Ich habe ihn zu einer Lagebesprechung ins Le Pharo gebeten, ihm einen pastis für Erwachsene vorgesetzt, et voilà! Dann habe ich ihm nahegelegt, seinen Mandanten in Paris mitzuteilen, dass Sam und Sie mit ihrer Geduld am Ende sind und andere Immobilien in Betracht ziehen. Die versteckte Drohung und ein weiterer pastis scheinen ihren Zweck erfüllt zu haben.“Elena beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Sie sind der Größte – ich bin total begeistert. Ich kann es kaum erwarten, Sam die Neuigkeit zu erzählen.“
(Fortsetzung folgt)