Inklusion – aus dem Alltag eines Lehrers
Ziel der Inklusion ist, alle Kinder in einem Schulsystem individuell zu fördern und fordern. Die Idee sei gut, doch an der Umsetzung hapere es noch gewaltig, hat uns ein Grundschullehrer erzählt.
DÜSSELDORF Der Ablauf am Morgen ist immer identisch: Tim* setzt sich auf seinen Platz, stellt seine Wasserflasche auf den Tisch und legt sein Wurstbrot daneben. Jeden Tag auf exakt die gleiche Stelle. Dann kann der Unterricht beginnen. Tim besucht die vierte Klasse einer gewöhnlichen Grundschule im Rheinland. Doch der Zehnjährige ist kein gewöhnlicher Schüler. Der Junge ist Autist und hat daher einen besonderen Förderbedarf. Er ist ein sogenanntes Inklusions-Kind.
Sein Klassenlehrer, wir nennen ihn Markus Becker, da er anonym bleiben möchte, unterrichtet in seiner Klasse 26 Kinder. Neben Tim gibt es noch ein weiteres Kind, das besonders gefördert werden muss. Es ist geistig behindert. „Ich will die beiden nicht missen“, sagt Becker. „Aber sie bereiten mir viel zusätzliche Arbeit, wodurch die anderen Kinder zu kurz kommen.“
Zum Schuljahr 2014/15 in NRW eingeführt, soll Inklusion einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle garantieren. Schüler und Schülerinnen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen soll damit die Möglichkeit zu inte- grativem Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen geboten werden. „Mit den vom Land gestellten Mitteln ist das aber kaum möglich“, sagt Becker.
Konkret fehle es schlichtweg an Sonderpädagogen. „Zusätzliche Hilfe für meine Klasse durch eine Sonderpädagogin bekomme ich in einer Schulstunde pro Woche“, erzählt Becker. Hinzu käme noch eine weitere Stunde wöchentlich durch einen 19-jährigen Jungen, der ein freiwilliges soziales Jahr in der Grundschule macht. Den Rest, Unterricht und Betreuung von 26 Kindern, muss Becker alleine stemmen.
Für den Autisten Tim ist es wichtig, dass immer alles geordnet ist, immer alles gleich abläuft. So muss das Wurstbrot immer an der gleichen Stelle liegen. Genauso darf die Tischordnung sich auch nicht verändern. „Tim braucht extrem viel Aufmerksamkeit“, sagt der Lehrer. Er sei dessen Bezugsperson. Während des Unterrichts suche der Junge immer wieder seine Nähe, stelle Fragen und erzähle viel. Und auch das geistig behinderte Kind brauche natürlich gesonderte Beachtung. „Es vergisst Gelerntes direkt wieder. Ich muss alles immer und immer wieder erklären“, so Becker. Für die übrigen 24 Kinder könne er dann kaum noch da sein.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) NRW, in dem unter anderem Grund-, Haupt- und Realschullehrer sowie Sonderpädagogen organisiert sind, beklagt schon lange, dass Inklusion in der Art, wie sie derzeit in NRW realisiert wird, weder für die Lehrer noch für die Kinder zumutbar ist. „Diese Generation wird gerade zum Spielball praxisferner und durch eigene Interessen gesteuerter Politiker“, sagt Jens Merten, Vorsitzender des VBE Solingen. Zum einen mangele es an Sonderpädagogen, zum anderen würden Regelschullehrer, trotz Einführung der Inklusion, in ihrer Ausbildung nicht für diese geschult. Zwar gebe es Fortbildungen, doch weder das Zeitbudget für diese noch der Fortbildungsetat seien aufgestockt worden.
Laut Bildungsministerium NRW ist die Nachfrage nach den Fortbildungen groß. „In den vergangenen zwei Jahren haben sich 40.000 Lehrer im Bereich Inklusion weitergebildet“, sagt ein Sprecher. Um dem Mangel an Sonderpädagogen entgegenzuwirken, sollen nach Angaben des Ministeriums zum Schuljahr 2017/2018 1000 neue Stellen geschaffen werden. Außerdem sollen 2300 neue Studienplätze für Sonderpädagogik geschaffen werden sowie eine berufsbegleitende Qualifizierung für Regelschullehrer angeboten werden.
Regine Schwarzhoff, Landesvorsitzende des Elternvereins NRW, sieht die Pläne des Landes skeptisch. „Es werden zwar dauernd Stellen geschaffen, aber wie sollen die denn gefüllt werden, wenn einfach kein Nachwuchs da ist“, sagt sie. Generell ist der Elternverband unzufrieden mit der Umsetzung. „Die Inklusion wurde im HauruckVerfahren, ohne Konzept, ohne Unterrichtsmaterial und vor allem ohne ausreichend Personal eingeführt“, sagt Schwarzhoff. Alle Kinder litten darunter, egal ob mit oder ohne besonderen Förderbedarf. Beide Seiten kämen zu kurz. „Dieser Umgang mit den Kleinen ist skandalös“, so die Landesvorsitzende.
Neben der Eins-zu-eins-Betreuung, die für die Kinder mit besonderem Förderbedarf nötig ist, fällt für die Lehrer auch zusätzliche Arbeit an. „Wir müssen Förderpläne schreiben, gesonderte Klassenarbeiten konzipieren, und in manchen Situationen mit den Kindern sind wir einfach überfordert, da wir in der Ausbildung nicht darauf vorbereitet wurden“, sagt Becker.
Doch generell sei Inklusion nicht zu verteufeln, nur die Umsetzung müsse besser werden. Es gebe schließlich auch gute Seiten: „Man merkt, dass eine Behinderung für die Kinder nichts Außergewöhnliches mehr ist“, so der junge Mann. Und auch Tim geht gerne in die Schule: „Ich freue mich, jeden Tag zu meinen Freunden in die Klasse zu kommen“, zitiert ihn sein Lehrer.
*Name von der Redaktion geändert