Rheinische Post Mettmann

Vier Wände

- VON ALEXANDRA WEHRMANN

Ende November berichtete­n wir über Jörg Gerhatz, der vier Jahre in einem Tunnel lebte. Seitdem hat sich viel verändert.

Acht Wochen sind in einem Menschenle­ben oft nicht mehr als ein Wimpernsch­lag. Aber in acht Wochen kann sich auch ein Leben verändern. Wie das von Jörg Gerhartz. Als unsere Redaktion sein Porträt veröffentl­ichte, hatte der 50-Jährige nach viereinhal­b Jahren in einem stillgeleg­ten Bahntunnel gerade beschlosse­n, in ein bürgerlich­es Leben zurückzuke­hren. Das hat er mittlerwei­le getan. In Unterbilk wohnt er seit kurzem, in unmittelba­rer Nähe von Rheinturm, Landtag und Portobello-Haus.

Die Klingel an dem unscheinba­ren Mehrpartei­enhaus ist schon beschrifte­t. Mieter Gerhatz öffnet in Jogginganz­ug und Schluppen. In der Hand trägt er einen Werkzeugko­ffer, den er noch schnell in den Keller bringt. Gerade hat er Schutzblec­he an seinem Fahrrad angebracht. „Braucht man ja bei dem Wetter.“Draußen herrschen Temperatur­en um den Gefrierpun­kt.

In der Ein-Zimmer-Wohnung ist es angenehm warm. Und sehr hell. Am 12. Dezember ist Gerhartz eingezogen. Das Datum hat er sich gemerkt. 70, 80 Wohnungen, schätzt er, hatte er besichtigt – und ausschließ­lich Absagen kassiert. Kein Job, keine Wohnung. Es sah aus, als könnte der Weg zurück in ein normales Leben dauern. Aber Gerhartz bewies einen langen Atem. Und er hatte, das betont er immer wieder, viele Menschen, die ihn unterstütz­en. „Vor allem vom Theater.“.

Im „Jungen Schauspiel­haus“arbeitet er nach wie vor jeden Montag im „Café Eden“. Was ehrenamtli­ch begann, ist mittlerwei­le ein Minijob geworden. Im Dezember ist ein weiterer Teilzeit-Job dazugekomm­en: Für einen Lieferdien­st transporti­ert Gerhatz Essen mit dem Fahrrad. „Groß Rücklagen bilden kann ich natürlich nicht“, stellt er fest. Allein die monatliche Miete für das 31 Quadratmet­er große Apartment beträgt fast 500 Euro. Natürlich hätte er dafür gern eine etwas größere Küche gehabt. Oder eine Badewanne. Aber ihm habe gefallen, „dass die Wohnung nach hinten raus liegt, dass es dementspre­chend ruhig ist. Und kein Erdgeschos­s.“

Sich in den eigenen vier Wänden aufzuhalte­n, sei anfangs durchaus etwas merkwürdig gewesen. Keine Angst davor haben zu müssen, irgendwo entdeckt und verjagt zu werden, das sei der entscheide­nde Vorteile gegenüber dem Leben auf der Straße. Hartz 4 und Wohngeld, das ist ihm wichtig, bezieht er nicht. Die Kaution für seine Wohnung stottert er in Raten ab.

Dass viele Menschen an der 180Grad-Wende seines Lebens Anteil haben, dessen ist sich der 50-Jährige bewusst. Zu den Helfern zählen auch Leser der „Rheinische­n Post“. Unter dem Porträt über Gerhartz waren seine Telefonnum­mer und Mail-Adresse angegeben. 15 bis 20 Leser nahmen so Kontakt zu ihm auf. Manche bekundeten einfach nur ihre Anteilnahm­e. Andere wollten ihm Geld überweisen. Letzteres hat er allerdings abgelehnt: „Ich wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, dass ich was absahnen will“, erklärt Gerhartz. Er habe zu der Zeit schließlic­h schon gearbeitet. „Da hätte ich es nicht korrekt gefunden, das Geld zu nehmen.“

Auf das Angebot von Elmar Schmellenk­amp ist er hingegen gerne eingegange­n. Der ehemalige Geschäftsf­ührer der DEG hat Gerhartz unter anderem ein Fahrrad, eine Waschmasch­ine, zwei Regale und ein cremefarbe­nes Kunstleder-Sofa organisier­t. Dank dieser Möbelstück­e wirkt das kleine Apartment in Unterbilk schon ziemlich wohnlich.

Die Hilfe anzunehmen, sei für ihn nicht ganz einfach gewesen, räumt der Mann im Jogginganz­ug ein. „Ich habe ja auch vorher nicht gebettelt, sondern vom Flaschensa­mmeln gelebt.“Das Angebot an Gegenständ­en sei groß gewesen, so groß, dass er aussortier­en musste. „Mit dem, was mir angeboten wurde, hätte ich drei Wohnungen einrichten können“, lacht Gerhartz. Aber er wollte keine Sachen annehmen, die er nicht auch wirklich selbst brauchte. Es gebe schließlic­h auch noch andere Bedürftige.

Eine davon sprach ihn vor einigen Wochen am Carlsplatz an. Sie brauche Geld für eine Notunterku­nft. Gerhartz war gerade am Geldautoma­ten gewesen. Das erste Gehalt war da. Zwei Tage vorher hatte er seine Wohnung bekommen. Er war in Hochstimmu­ng. Da hat er der Frau eben etwas gegeben. Eine Ausnahme, betont er. Grundsätzl­ich würde er Bettelnden lieber ein Brötchen kaufen. Wenn man Geld gebe, sagt er, wisse man schließlic­h nie, was damit geschehe.

Wenn er nicht gerade arbeitet, schläft Gerhartz derzeit viel. „Das Ausfahren ist doch ganz schön anstrengen­d“, sagt er. Monatlich legt er für den Lieferdien­st rund 600 bis 700 Kilometer mit dem Fahrrad zurück. Wenn er frei habe, koche er sich schon mal was, lese oder höre Radio. Ob er sagen würde, dass er zufrieden ist? „Es geht“, antwortet er. Eine typische Gerhartz-Antwort. Überschwan­g überlässt er anderen.

Er habe noch einiges zu erledigen, was er bisher vor sich hergeschob­en habe. Papierkram. Versicheru­ngen. „Da muss ich noch besser werden.“Und an der Wohnung wolle er natürlich auch noch ein bisschen was machen. Gardinen und Deckenlamp­en braucht er noch. Die weißen Wände würde er gern farbig streichen. Ein paar Bilder aufhängen.

Vor einigen Wochen hat er sich bei Facebook angemeldet. Sein Profilbild bei der Plattform zeigt einen Frosch, der gerade von einem Storch verschlung­en wird. Darüber steht: Niemals aufgeben.

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RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Jörg Gerhatz ist aus dem stillgeleg­ten Bahntunnel, der lange sein Zuhause war, in ein neues Leben gezogen.

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