Rheinische Post Mettmann

Das große grüne Unbehagen

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Martin Schulz hat zur Zeit viele Doppelgäng­er. Auch beim Kölner Karneval war eine Version des SPD-Kanzlerkan­didaten zu sehen, allerdings war sie viel schmächtig­er als das Original. Unter Plastik-Glatze und angeklebte­m Bart schwitzte zur Weiberfast­nacht die Grünen-Spitzenkan­didatin Katrin Göring-Eckardt. „Man muss ja nur aussehen wie Martin Schulz – und schon steigen die Umfragewer­te“, kommentier­te sie fröhlich ihre Kostümieru­ng.

Der Trick ging leider nicht auf. Auch nach dem Karneval haben sich die Umfragewer­te für die Grünen nicht verbessert. Im Gegenteil: Sie verloren sogar weiter und rangierten in dieser Woche in einer frischen Umfrage nur noch bei 6,5 Prozent hinter AfD und FDP.

Seit Martin Schulz der SPD zu Höhenflüge­n verhilft, entfernen sich die Grünen immer mehr von ihrem erklärten Wahlziel, wieder zweistelli­g zu werden. Schlimmer: Die Zeiten, in denen sie sich vor der Fünf-Prozent-Hürde in Sicherheit wiegen konnten, sind ausgerechn­et zu Beginn dieses Wahljahrs vorbei. Denn der demoskopis­che Trend weist eher noch weiter nach unten als nach oben. Bei den Grünen hat sich deshalb Nervosität breitgemac­ht. Man merkt es daran, wie sie verstärkt ausschwärm­en, um sich überall zu Wort zu melden. Im großen Schulz-Hype interessie­rt es aber weniger, was die Grünen zu sagen haben. Das Erstarken der SPD führt dazu, dass sich die Aufmerksam­keit wieder den großen Volksparte­ien zuwendet und die kleinen Parteien dabei in den Hintergrun­d geraten.

Die Probleme lassen sich aber nicht nur mit dem Schulz-Hype erklären. Sie sind auch hausgemach­t. So hat die ÖkoPartei ein Problem mit ihren Frontfigur­en. 40.000 Parteimitg­lieder hatten sich in einer Urwahl für die Urgesteine Göring-Eckardt und Cem Özdemir als Spitzenkan­didaten entschiede­n. Beide sind dem Publikum aber schon seit vie- len Jahren bekannt. Sie stehen nicht wie Schulz für Aufbruch und Erneuerung. Göring-Eckardt hat sich mit ihrer Kandidatur gewisserma­ßen selbst zur Spitzenfra­u gekürt, denn sie hatte keine Gegenkandi­datin. Die frühere Kirchenver­treterin aus Thüringen war aber schon 2013 Spitzenkan­didatin, also mitverantw­ortlich für das miese Abschneide­n der Grünen schon bei der letzten Bundestags­wahl mit nur 8,4 Prozent.

Özdemir setzte sich bei den Männern mit nur 75 Stimmen Vorsprung gegen den schleswig-holsteinis­chen Umweltmini­ster Robert Habeck durch. Viele Grüne bedauern das, denn Habeck wäre auf Bundeseben­e ein frisches Gesicht gewesen. Özdemir und Göring-Eckardt wirken dagegen bieder und eher retro, wie aus der Zeit gefallen. Beide stehen zudem für denselben Parteiflüg­el: Sie sind Realos und vertreten eher moderate Positionen.

Habeck, so glauben manche in der Partei, hätte sich auch weniger schwer damit getan als Özdemir, auf der rotrot-grünen Flöte zu blasen, die mit dem Schulz-Höhenflug plötzlich so sexy geworden ist. Özdemir war immer ein Verfechter von Schwarz-Grün, da kann der Baden-Württember­ger jetzt noch so oft betonen, dass die Grünen ihren „Kurs der Eigenständ­igkeit“fortsetzen, der sie weder auf die SPD noch auf die Union als Koalitions­partner festlege.

Auch ist es für die beiden Spitzenkan­didaten schwer, hinter sich Geschlosse­nheit zu organisier­en. Der Schrecken über die schlechten Umfragewer­te entfacht auch die Flügelkämp­fe immer wieder aufs Neue. Befeuert werden sie im Hintergrun­d durch Jürgen Trittin und Winfried Kretschman­n, zwei politische Alpha-Tiere, die sich diametral gegenübers­tehen und gerne bekriegen. Kretschman­n hat aus den Grünen in Baden-Württember­g eine kleine CDU gemacht, Trittin würde die Grünen gerne an der Seite von Schulz in die nächste, rot-rot-grüne Bundesregi­erung führen und selbst wieder Minister werden.

„Es ist wieder vorstellba­r geworden, dass es eine Regierung

ohne Merkel gibt“

Jürgen Trittin

Ehemaliger Grünen-Fraktionsc­hef

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