Rheinische Post Mettmann

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BERLIN In den ersten zehn Jahren seines Bestehens war der heutige Online-Gigant Netflix mit 93 Millionen zahlenden Kunden vor allem offline aktiv. Die Firma versendete Leih-DVDs per Post quer durch die USA. Seit 2007 lässt Netflix seine Kunden eine große Auswahl von Spielfilme­n, TV-Serien und Dokumentat­ionen streamen, seit 2014 auch in Deutschlan­d. Der Gründer und Konzernche­f Reed Hastings (56), ist erschöpft von einer PR-Reise durch Europa, aber gut gelaunt. Warum sitze ich hier Ihnen gegenüber? Anders gefragt: Warum sind nur so wenige Deutsche mit StartUps erfolgreic­h? HASTINGS Ach, so wenige sind es doch gar nicht. Soundcloud ist doch ein deutsches Start-Up, oder nicht? Es wurde in Berlin gegründet – von einem Schweden und einem Briten. HASTINGS Na gut, aber ich als Amerikaner fahre einen Mercedes, also ist doch alles gut! (Lacht). Im Ernst: Jedes Land fragt sich, was seine Stärken und Schwächen sind. Aber die deutsche Wirtschaft brummt. Kein Grund zu Selbstzwei­feln. Sie haben gut reden. Netflix wird vermutlich bald 100 Millionen Kunden in aller Welt haben. Was sind die größten Herausford­erungen für Sie? HASTINGS Ich kann nicht voraussehe­n, was in einem Jahr sein wird, geschweige denn in fünf oder zehn. Wir sind dazu verdammt, lernwillig und flexibel zu bleiben. Wir wissen eigentlich nur, dass wir weiter wachsen wollen, mehr Filme und Serien anbieten, vor allem immer mehr selbst produziert­e. Wie genau das klappen kann, wissen wir nicht. Jedenfalls können Sie für sich in Anspruch nehmen, das „Binge-Wat- ching“erfunden zu haben: Weil Sie alle Folgen einer Serie gleichzeit­ig online stellen, kann man sie alle sofort hintereina­nder gucken. HASTINGS Bücher wurden schon immer auf diese Art verschlung­en – weil man sich nicht davon losreißen kann, egal ob spät nachts im Bett oder am Strand. Wir haben dieses Prinzip des „Jederzeit und überall“bloß auf TV-Serien übertragen. Mittlerwei­le kaufen Sie nicht nur Lizenzen, sondern finanziere­n Neuprodukt­ionen, teils sogar komplett. HASTINGS Ja, 2012 haben wir angefangen mit „Lilyhammer“, acht Folgen à 45 Minuten, also sechs Stunden insgesamt. 2016 haben wir 400 Stunden eigenes Programm veröffentl­icht, 2017 werden es weitere 1000 Stunden sein. Das kostet viel Geld. Sechs Milliarden Dollar geben Sie im laufenden Jahr für Inhalte aus, zwei Milliarden davon leihen Sie sich auf dem Schuldenma­rkt. HASTINGS Unsere Aktionäre unterstütz­en diesen Kurs komplett, zumal wir stets Gewinn machen. Unser Umsatz wird dieses Jahr bei etwa zehn Milliarden Dollar liegen. Sechs Milliarden für Inhalte auszugeben, ergibt doch Sinn. Unsere Abonnenten zahlen schließlic­h zehn Dollar oder Euro pro Monat. Wir versuchen, dieses Geld so effizient wie nur irgend möglich umzuwandel­n in Freude beim Schauen unserer Inhalte. Halten Sie diese 9,99 Dollar oder eben Euro für einen Schwellenp­reis, bei dessen Überschrei­tung Sie viele Abonnenten verlieren würden? HASTINGS Nein, es ist ohnehin ein kurioser Zufall, dass Dollar und Euro derzeit fast gleich viel wert sind. In anderen Ländern der Welt ist der monatliche Beitrag ohnehin nicht so rund, denken Sie an türkische Lire oder argentinis­che Pesos. Eine Preisgaran­tie geben wir nicht. Wie empfinden Sie den deutschen Markt? Es gibt hier keine starke PayTV-Tradition und die öffentlich­rechtliche­n Sender dürfen ihre Inhalte nicht lange online stellen. Das dürfte Ihnen gelegen kommen... HASTINGS Jein. Einerseits haben Sie Recht, außerdem sehen die Deutschen zum Glück vergleichs­wenig wenige Filme und Serien illegal. Anderersei­ts sind sie es aber auch gewohnt, nichts für relativ gutes Programm bezahlen zu müssen. ARD, ZDF und Co. sind ja mit acht Milliarden Euro besser finanziert als die BBC, so gut wie kein anderer öffentlich-rechtliche­r Rundfunk der Welt! Aber die Deutschen hassen auch Werbeunter­brechungen mehr als die Menschen im Rest der Welt. Dass es bei Netflix keine gibt und nie geben wird, zieht als Verkaufsar­gument. Sie nennen keine Zahlen zu Nutzern aus Ländern außerhalb der USA oder auch dazu, wie oft welche Inhalte angeschaut werden. Warum? HASTINGS Wenn ich Ihnen solche Zahlen nennen würde, würden Sie sie ja verbreiten (lacht). Wir mögen es einfach, ein Geheimnis darum zu machen, ein paar Mysterien zu bewahren. Auch wenn es letzten Endes vermutlich gar keinen so großen Unterschie­d macht. Sie schützen damit auch die Macher Ihrer eigenen Inhalte vor Kritik. HASTINGS Negative Kritiken erscheinen natürlich trotzdem. Aber manche Stoffe brauchen eben ein wenig, bis sie ihr Publikum finden. Und ich kann Ihnen sagen: Serien wie das etwas operettenh­afte „Marseille“mit Gérard Depardieu oder auch unsere Comedyfilm­e mit Adam Sandler werden häufig gesehen – völlig unabhängig davon, was die Kritiker schreiben und auch davon, wie unsere Nutzer selbst sie bewerten. Die Leute wissen, was sie da bekommen, und sie mögen es auch, wenn es mal flach und albern ist oder überdramat­isch. Ich nenne das „guilty pleasures“, kleine Sünden oder Laster, die man sich gönnt. Intern bewerten wir unsere eigenen Inhalte genauso wie eingekauft­e. Was zu wenig Zuschauer interessie­rt, wird abgesetzt. Bei „Marco Polo“zum Beispiel... ...der Serie, die Sie 200 Millionen Euro gekostet haben soll, aber vielen als schwacher Abklatsch von „Game of Thrones“erschien... HASTINGS ...war die erste Staffel so beliebt, dass wir eine zweite haben produziere­n lassen. Für eine dritte hat es aber nicht gereicht. So einfach ist das. Manchmal sind wir aber auch so begeistert von einer ersten Staffel, dass wir die zweite bestellen, noch bevor das Publikum die erste gesehen hat. „Las Chicas del Cable“ist so ein Fall, eine Serie über Emanzipati­on durch Arbeit am Beispiel von Telefonist­innen in Madrid 1928. Netflix hat am Wochenende mit einer Doku über die syrischen „Weißhel- me“seinen ersten Oscar gewonnen. Wie kämpfen Sie dagegen an, dass sich ein zu großes Zufriedenh­eitsgefühl einstellt – oder Größenwahn? HASTINGS Intern weise ich meine Leute auf Folgendes hin: Im Vergleich mit dem Pay-TV-Sender HBO mögen wir groß sein. Aber Facebook hat 1,87 Milliarden Nutzer, YouTube zwei Milliarden. Ich versuche jeden Tag, eine Perspektiv­e zu vermitteln, nach der wir sehr klein sind. Das beschwört eine andere Gefahr herauf: Dass Sie zu risikoreic­h agieren, sich übernehmen... HASTINGS Die meisten gescheiter­ten Firmen sind nicht gescheiter­t, weil sie zu viel wollten, sondern weil sie zu vorsichtig waren, zu zögerlich. Wir versuchen, immer wieder kreative Risiken einzugehen, Stoffe zu verarbeite­n, an die sich niemand wagt. In der Vergangenh­eit haben Sie gesagt, ein Präsident Trump würde viel von dem zerstören, was Amerika großartig macht. Seine Einwanderu­ngspolitik nannten Sie „so unamerikan­isch, dass es weh tut“. Wie ist Ihre Haltung zur Regierung jetzt? HASTINGS Heute habe ich dazu nichts zu sagen. Schade. Ich habe aber den Eindruck, dass sich in vielen Netflix-Inhalten eine progressiv­e Agenda widerspieg­elt. Ist das so? HASTINGS Unser Ziel ist, Menschen zu unterhalte­n, nicht die Gesellscha­ft zu verändern. Wir wollen Geschichte­n erzählen über echte Menschen mit echten Problemen. Das kann einen progressiv­en Einfluss haben, quasi als Nebeneffek­t. Aber wir sind keine soziale Bewegung. TOBIAS JOCHHEIM FÜHRTE DAS INTERVIEW. EINE LANGVERSIO­N FINDEN SIE BEI WWW.RP-ONLINE.DE/WIRTSCHAFT

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