„Wo ist er, kommt er wieder?“
Als der Amokläufer am Düsseldorfer Hauptbahnhof angreift, geraten viele in Panik. Sechs Augenzeugen erzählen, was sie erlebt haben.
Antonia Dicke, 20, Studentin
Ich steige durch die erste Tür in den ersten Waggon der S 28 in Richtung Mettmann und suche mir einen Platz. Plötzlich fangen alle um mich herum an zu schreien. Im Zug ist Panik ausgebrochen. Ein Mann ruft: „Da läuft einer mit ’ner Axt, da ist einer mit ’ner Axt!“Ich sehe Todesangst in den Gesichtern. Eine blonde Frau mit rotem Schal hat sich neben mir auf den Boden zwischen die Sitze gehockt, sie zittert am ganzen Körper. Mehrere Reisende kauern sich zusammen. Ich auch. Meine Beine zittern. Den Täter sehe ich nicht.
Dann beobachte ich, wie ein schreiender Mann einen augenscheinlich leblosen Körper am anderen Ende des Waggons in den Zug zerrt. „Wir brauchen Hilfe, Mann! Der hat dem mit der Axt auf den Kopf geschlagen! Mann, tut doch was, ruft einen Arzt. Hilfe!“, schreit er. Er ruft immer wieder den Namen des Mannes.
Ich versuche, die Situation zu überblicken, und rufe die Polizei an. Dann zögere ich. In einiger Entfernung liegt der schwer am Kopf verletzte junge Mann. Will ich das sehen? Kann ich das sehen? Ich gehe zu ihm. Er ist inzwischen wieder ansprechbar. Ein Ersthelfer drückt eine noch fast volle Packung Taschentücher auf die Wunde an der linken Seite seines Kopfes. Sie blutet stark und ist etwa sieben Zentimeter lang. Unter Schock, mit weit aufgerissenen Augen, will der Mann aufstehen und hebt seinen Kopf mehrmals an. Ich versuche, ihn am Boden zu halten. Ich halte seine Hand, drücke ihm sanft auf die Brust und spüre seinen Herzschlag. Ich rede ruhig mit ihm, sage ihm, dass alles gut ist. „Alles nur halb so wild.“Der Mann, er ist Ende 20, sagt kein Wort.
Kurze Zeit später kommt ein Mann mit einem Erste-Hilfe-Kasten. Wir ersetzen die Taschentuchpackung durch eine Kompresse. Der Freund des Schwerverletzten schreit immer noch um Hilfe, er schlägt wild gegen die Tür der Bahn. Der Lokführer hatte sie geistesge- genwärtig verschlossen, um die Menschen zu schützen.
Ich höre, wie eine Frau ruft: „Hier ist noch jemand verletzt, eine Fleischwunde, wir brauchen Hilfe!“Ich nehme den Erste-Hilfe-Koffer und gehe zu ihr. Als ich die Verletzte sehe, bin ich schockiert: Vor mir sitzt ein Mädchen mit schwarzer Kappe, zitternd und zusammengesackt. In seinem dünnen Arm klafft eine Wunde. Wenn man sich eine makellose, durch eine Axt eingeschlagene Kuhle in einem Baum vorstellt, weiß man, wie diese aussah. Später erfahre ich, dass das Mädchen erst 13 Jahre alt ist. Ich nehme das Erstbeste, was ich in dem Erste-Hilfe-Koffer finde, und wickele es ihr um den Arm. Dann versuche ich, sie abzulenken. Sie erzählt mir, wie sie heißt, und dass sie auf dem Weg nach Hause war. Dann gerät sie wieder in Panik. „Wo ist er? Kommt er wieder?“Später murmelt die 13-Jährige, sie müsse ihre Mama anrufen. Ich nehme ihr das Handy ab und rufe ihre Eltern an.
Inzwischen sind die Türen der Bahn geöffnet. Der Lokführer hat eine Durchsage gemacht, dass die Polizei nun da sei und wir in Sicherheit seien. Sanitäter kommen und behandeln den Arm des Mädchens. Gemeinsam verlassen wir den Zug. Mehrere Reisende sind psychisch so am Ende, dass auch sie ärztlich betreut werden müssen. Ich höre, wie eine Frau den Sanitätern erzählt, sie habe nichts mitbekommen. Sie sei einfach zusammengeklappt, bevor sie etwas habe sehen können. Wir werden als Gruppe in den Bahnhof heruntergeführt, wo unsere Aussagen aufgenommen werden sollen. Die Einsatzkräfte sind sehr professionell, sie sprechen ruhig, langsam und unaufgeregt mit uns.
Inzwischen habe ich erfahren, dass der junge Mann aus meinem Abteil auf der Intensivstation liegt. Auf Facebook hat seine Mutter gestern Abend geschrieben, dass er wach und ansprechbar sei – zum Glück. Dem Mädchen geht es anscheinend soweit gut. Sie war so tapfer. Mir wird nach und nach klar, wie dieser Abend hätte enden können, wenn ich hinten in den Zug eingestiegen wäre.“ Unterschiedliche Farben zeigen die Wege von Täter, Opfern und der Polizei.
Täter
Passagiere / Opfer
Polizei / Beamte
4. 20.54 Uhr Die Bundespolizei wird von Reisenden alarmiert. Die Beamten laufen auf den Täter zu, der über die Treppen in die Bahnhofshalle kommt. 20.54 bis 20.56 Uhr Der Täter flieht mit der Waffe vor den Beamten zurück auf den Bahnsteig 13 und weiter auf die Gleise in süd-westliche Richtung. Die Beamten verfolgen ihn in geringem Abstand. Weg: Augenzeuge
im Auto Mintrop
platz Bahnsteig
5.
Halle
Bahnhofsvorplatz
Weg: Polizei Verletzte werden von Hilfskräften in der
Bahnhofshalle behandelt.
S 28
6.
2.
4.
Weg: Täter e ß ra St er ng ri or W
e Alle ker- Bec i- Will Elle rstr
aße Die Unterführung der Ellerstraße wird kurz nach dem Sturz von den Einsatzkräften abgesperrt.
20.53 Uhr Passagiere schubsen den Täter aus der Bahn. Der Lokführer verschließt und verriegelt die Tür. Der Täter läuft auf Bahnsteig 13/14 hin und her. Opfer fliehen
in die Bahnhofsvorhalle.
Gleis 13/14
Insgesamt 600 Beamte riegeln den Bahnhof ab. Der Einsatz dauert bis in die Nacht an.
3.
6.
1. SEK-Beamte verfolgen
den Täter.
20.51 Uhr Die S 28 von Kaarst nach Mettmann fährt auf Gleis 13 ein. Der
36-jährige Täter befindet sich im Zug.
Bibliothek
20.56 Uhr Der Täter legt die Axt ab, klettert über das Geländer und springt von den Gleisen auf die darunterliegende Ellerstraße vor ein Auto. Augenzeuge Kevin Klein wendet sich per Twitter kurz nach dem Zusammenstoß an das Mitglied des Landtags Stein (ebenfalls am Tatort). Laura Köhler, 19, Abiturientin Die 19-Jährige steigt gegen 20.50 Uhr aus der U-Bahn am Düsseldorfer Hauptbahnhof und geht zum Gleis 13, um die S-Bahn in Richtung Wuppertal zu nehmen. Auf der Treppe begegnen ihr panische Menschen. „Eine Person rief, dass ein Mann mit einer Axt willkürlich auf Menschen losgehe“, erzählt die junge Frau. Einige Menschen beobachteten die Situation, andere versuchten, den Mann zu stoppen, indem sie auf die Gleise springen und nach Steinen griffen. Köhler sieht den Täter in der Ferne, bewaffnet mit der Axt, und beschließt, schnellstmöglich vom Bahngleis in Richtung Ausgang zu laufen: „Als ich die Axt sah, rannte ich los.“In der Eingangshalle hört sie wie Menschen nach einem Notarzt rufen. Vor dem Gebäude sammeln sich Menschenmassen, und die ersten Streifenwagen treffen nach wenigen Minuten ein. „Schon nach kurzer Zeit war der Eingang des Bahnhofs dann von Streifenund Rettungswagen umstellt und Hubschrauber kreisten am Himmel.“(köh) Gazmen Ferizaj, 25, Bäckerei-Verkäufer Ferizaj arbeitet an dem Bäckerei-Stand direkt auf dem Bahnsteig an Gleis 13 und 14. Als die SBahn mit dem Täter einfährt, macht er gerade die Abrechnung für den Abend und stellt den Müll raus. Er beobachtet, wie Menschen aus der Bahn stürzen und zu den Treppen rennen. „Da habe ich schon gemerkt, dass etwas falsch ist“, sagt der Verkäufer. In Panik schließt sich Ferizaj den anderen Leuten an und rennt aus dem Bahnhof. Erst zu Hause erfährt er, was passiert ist. „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und hatte heute Angst, zur Arbeit zu gehen.“Er fühlt sich am Hauptbahnhof nicht mehr sicher – das liege auch am Sicherheitspersonal. Die seien immer nur in den unteren Etagen des Bahnhofs unterwegs und zu selten an den Gleisen: „Hier oben bekommt keiner etwas mit. Wir haben am Stand zwar eine Notrufnummer, es dauert aber mindestens fünf Minuten, bis jemand kommt.“Seiner Meinung nach sollten an jedem Gleis zwei Sicherheitsleute stehen. (veke)