Rheinische Post Mettmann

Was in Frankreich auf dem Spiel steht

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Bleich werden führende deutsche Politiker, wenn sie sich vorstellen, dass die Franzosen ein Staatsober­haupt wählen, das dem „Brexit“den „Frexit“folgen lassen will, den Ausstieg Frankreich­s aus der EU. Dann sei das europäisch­e Projekt gestorben. Nicht von ungefähr gehen deshalb Europa-Freunde derzeit jedes Wochenende in vielen deutschen Städten auf die Straße – auch als Demonstrat­ion in Richtung Frankreich, wo am übernächst­en Wochenende bereits entschiede­n wird, welche beiden Persönlich­keiten mit welchen Konzepten in die Stichwahl am 7. Mai geschickt werden. Elf Kandidaten sind übrig geblieben. Und der Abstand zu den beiden Favoriten, zur rechtspopu­listischen EU-Gegnerin Marine Le Pen und zum unabhängig-liberalen EU-Anhänger Emmanuel Macron, wird immer kleiner. Die Wahl ist offen.

Der Linke Jean-Luc Mélenchon hat Erfolg mit seinem gegen die deutsche Stabilität­spolitik gerichtete­n Wahlkampf. Er ist den Favoriten dicht auf den Fersen mit Feststellu­ngen wie der vom „starken Frankreich“, das 18 Prozent der europäisch­en Wirtschaft­skraft stelle und sich deshalb „gegen den deutschen Sparkurs auflehnen“könne. Ins gleiche Horn bläst der Sozialist Benoît Hamon, und er beruft sich dabei auf SPD-Chef Martin Schulz. Dieser habe bereits eingeräumt, dass der deutsche Wohlstand auf der Verarmung anderer Länder beruhe und es deshalb zu einer von Frankreich und Deutschlan­d ausgehende­n gemeinsame­n Veränderun­g Europas kommen werde.

Dabei belegt eine neue, noch unveröffen­tlichte Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW), dass Frankreich an weiteren einschneid­enden Reformen nicht vorbeikomm­t. Ein Jahrzehnt habe Frankreich bis 2005 in der Wirtschaft­sentwicklu­ng vor Deutschlan­d gelegen, sei seitdem aber immer weiter zurückgefa­llen. Inzwischen stehe es bei der globalen Wettbewerb­sfähigkeit auf Platz 21 von 138 Ländern und damit weit hinter Großbritan­nien (Platz 7) und Deutschlan­d (Platz 5).

Große Probleme haben die Nachbarn mit der Arbeitslos­igkeit. Sie stieg in der Amtszeit von François Hollande von 9,7 auf zehn Prozent (Deutschlan­d derzeit: 6,2 Prozent). Als Arbeitslos­e registrier­t sind aktuell allein 654.000 junge Leute unter 25 und damit fast jeder Vierte in dieser Altersgrup­pe. Zugleich sind Frankreich und Deutschlan­d nicht nur politisch als traditione­ller Motor für die Entwicklun­g der EU, sondern auch wirtschaft­lich eng verzahnt: Im vergangene­n Jahr betrug der Wert der nach Frankreich verkauften Waren laut IW-Studie 101 Milliarden Euro. „Deutschlan­d kann es demnach nicht kaltlassen, dass die Franzosen große wirtschaft­liche Probleme haben“, schreiben die Wirtschaft­sforscher.

Sie sehen als Ursache die hohen Arbeitskos­ten und die strengen Regulierun­gen. Und sie verweisen auf die Finanzpoli­tik, die den französisc­hen Schuldenbe­rg auf zuletzt 2150 Milliarden Euro wachsen ließ. Selbst nach Abzug der Zinszahlun­gen sei der französisc­he Haushalt weiter im Minus. Im vergangene­n Jahr betrug die Verschuldu­ng in Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s 96,4 Prozent. „Wenn die französisc­he Wirtschaft­spolitik hier keine Trendwende schafft, wird bald die magische Grenze von 100 Prozent überschrit­ten sein“, sagt die IW-Studie voraus. Maßgeblich seien die hohen Staatsausg­aben, die 57 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s ausmachten (Deutschlan­d: 44 Prozent), und in erster Linie die Sozialleis­tungen.

Neben der Verschuldu­ng des staatliche­n Sektors sei auch die Privatvers­chuldung deutlich gestiegen – im Unterschie­d zu anderen EU-Ländern auch noch nach dem Ende der Finanzkris­e. Studie des Instituts der Deutschen

Wirtschaft

Reformen in der Hollande-Zeit sind vor allem mit dem Namen des früheren Wirtschaft­sministers Macron verbunden. Er erleichter­te Lohnsenkun­gen und Arbeitszei­tausweitun­gen bei angeschlag­enen Betrieben. Daran will er als Präsident anknüpfen und neben dem Arbeitsmar­kt auch die Arbeitslos­enversiche­rung und das Rentensyst­em reformiere­n.

Auch der einstmals als Favorit gehandelte Konservati­ve François Fillon will die 35-Stunden-Woche wieder abschaffen und im großen Stil Stellen im öffentlich­en Dienst streichen. Doch die Affäre um die Scheinbesc­häftigung von Familienan­gehörigen hat seine Aussichten schwinden lassen. Anders bei der Kandidatin des Front National, Le Pen, deren eigene Beschäftig­ungsproble­me als Europa-Abgeordnet­e ihren Umfragewer­ten wenig anhaben konnten.

In ihrer Gegnerscha­ft zur EU können sich Le Pen von rechts und Jean-Luc Mélenchon von links die Hand reichen. Auch der einstige Sozialist will aus der EU austreten und die Wirtschaft mit einem 100-Milliarden-Investitio­nsprogramm ankurbeln. Sozialist Hamon steht für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen, für neue Unternehme­nssteuern und die weitere Anhebung des Mindestloh­ns. Auch der Linke Philippe Poutou liebäugelt mit Verstaatli­chungen und Entlassung­sverboten.

Die IW-Studie bescheinig­t Fillons Wahlprogra­mm, die „weitestgeh­enden Veränderun­gen“zu wollen. Allerdings seien seine Wahlchance­n deutlich gesunken. Positiv bewerten die Wirtschaft­sforscher die Vorhaben Macrons, allem voran die altersabhä­ngige Arbeitszei­t, das flexible Renteneint­rittsalter, die Steuerfina­nzierung des Arbeitslos­engeldes, steuerlich­e Anreize für unternehme­rische Innovation­en, geringere Sozialabga­ben und deren Gegenfinan­zierung durch Verbrauchs­steuern. Das IW-Fazit: „Damit sind Reformvorh­aben in der Diskussion, die mit den Empfehlung­en internatio­naler Organisati­onen im Einklang stehen.“Allerdings nennen es die Forscher „eher fraglich“, ob die Franzosen auch die Kraft finden, diese Maßnahmen umzusetzen.

„Deutschlan­d kann es nicht kaltlassen, dass die Franzosen große wirtschaft­liche Pro

bleme haben“

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