Rheinische Post Mettmann

Die verpasste historisch­e Chance

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Ende Juli 2016 wurde der Weihnachts­marktatten­täter Anis Amri an der Grenze aufgegriff­en. Das war vermutlich die letzte Gelegenhei­t, ihn zu inhaftiere­n. Ein Richter schildert im Untersuchu­ngsausschu­ss, warum es dazu nicht kam.

DÜSSELDORF Jörg Pohlmann schildert die Situation, als wäre es gestern gewesen. „Er machte einen recht lockeren Eindruck, in keiner Weise aggressiv“, erinnert sich der Bereitscha­ftsrichter aus Ravensburg an seine Begegnung mit dem Mann, der wenige Monate später zum Attentäter wurde. Neben Anis Amri hätten in der Zelle in Friedrichs­hafen „ein oder zwei Beamte“gesessen. Da kein Dolmetsche­r für Arabisch verfügbar war, habe Amri mit einem Polizeibea­mten italienisc­h gesprochen. Er sei auf dem Weg zu seiner eigenen Hochzeit nach Turin, die eigentlich am Vortag hätte stattfinde­n sollen, habe Amri gesagt. Seine Braut mache schon Probleme.

Ob der Richter ihm die Geschichte geglaubt habe, wird Pohlmann vor dem Untersuchu­ngsausschu­ss in Düsseldorf gefragt. „Ich hatte nicht die Möglichkei­t, das zu überprüfen“, sagt dieser, „aber geglaubt habe ich es ihm nicht.“Eine Handhabe, Amri endgültig zu inhaftiere­n, sieht der Richter nicht.

So knapp wie an diesem Wochenende im Juli 2016 entging Amri seiner Haft nach bisherigen Erkenntnis­sen nie wieder – eine historisch­e Chance wurde vertan. Mit gefälschte­n Pässen und Betäubungs­mitteln war er am 30. Juli 2016 kurz nach Mitternach­t in einem Fernbus erwischt worden, als er ausreisen wollte. Die Polizei nahm ihn daraufhin fest.

Richter Pohlmann wusste nach eigenen Angaben, dass Amri unter verschiede­nen Namen lebte und Kontakte zum IS hatte. Er wusste, dass Berliner Behörden involviert waren und dass Amris Telefon überwacht wurde. Pohlmann zufolge hakte es aber an verschiede­nen Stellen: Er habe keinen Antrag auf Abschiebeh­aft stellen können, weil er keine Akte hatte. In der Ausländerb­ehörde Kleve, die zuständig war, sei an dem Wochenende niemand zu erreichen gewesen, habe ihm eine Beamtin der Ausländerb­ehörde in Friedrichs­hafen mitgeteilt. In Kleve weisen sie das zurück. Vom zuständige­n Staatsanwa­lt war laut Pohlmann ebenfalls nichts zu erwarten. Der Strafverfo­lger hielt einen Haftbefehl für unverhältn­ismäßig, wie der Richter von Polizisten gehört hatte. Auch sei unklar gewesen „wollen die Berliner Behörden ihn in Haft haben – oder wollen die lieber, dass er geht“? Ihn habe aber nur interessie­rt, ob er ihn wenigstens vorübergeh­end festsetzen konnte. Am Samstagabe­nd ordnet er dies damals per einstweili­ger An- ordnung an, bis Montag 18 Uhr. Die Zeit drängt, womöglich auch, weil sich Amri in der falschen Haftanstal­t befindet. Ravensburg sei nicht zuständig gewesen, weil es sich um einen Fall von Abschiebeh­aft handele. Sondern vielmehr Pforzheim. Ein rechtswidr­iger Zustand.

Am Montagmorg­en übergibt Pohlmann den Fall an den zuständige­n Haftrichte­r am Amtsgerich­t. Danach hört er von Amri erst wieder nach dem Anschlag. Inzwischen werden auch die Beamten in Kleve aktiv. Doch es fehlen Passersatz­papiere: „Ich musste dem Haftrichte­r nachweisen, dass eine Abschiebun­g binnen drei oder sechs Monaten möglich ist“, sagte gestern ein Sachbearbe­iter. Dies sei aussichtsl­os gewesen, die einstweili­ge Anordnung der Abschiebeh­aft muss aufgehoben werden.

Amri kann das Gefängnis in Ravensburg als freier Mann verlassen. Kein halbes Jahr später verübt er den Anschlag auf dem Weihnachts­markt in Berlin.

 ?? FOTO: DPA ?? Am 19. Dezember 2016 fuhr der Tunesier Anis Amri mit einem Lkw auf einen Weihnachts­markt in Berlin und tötete zwölf Menschen. Ob und wie das Attentat hätte verhindert werden können, ist Thema im Untersuchu­ngsausschu­ss.
FOTO: DPA Am 19. Dezember 2016 fuhr der Tunesier Anis Amri mit einem Lkw auf einen Weihnachts­markt in Berlin und tötete zwölf Menschen. Ob und wie das Attentat hätte verhindert werden können, ist Thema im Untersuchu­ngsausschu­ss.

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