Die verpasste historische Chance
Ende Juli 2016 wurde der Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri an der Grenze aufgegriffen. Das war vermutlich die letzte Gelegenheit, ihn zu inhaftieren. Ein Richter schildert im Untersuchungsausschuss, warum es dazu nicht kam.
DÜSSELDORF Jörg Pohlmann schildert die Situation, als wäre es gestern gewesen. „Er machte einen recht lockeren Eindruck, in keiner Weise aggressiv“, erinnert sich der Bereitschaftsrichter aus Ravensburg an seine Begegnung mit dem Mann, der wenige Monate später zum Attentäter wurde. Neben Anis Amri hätten in der Zelle in Friedrichshafen „ein oder zwei Beamte“gesessen. Da kein Dolmetscher für Arabisch verfügbar war, habe Amri mit einem Polizeibeamten italienisch gesprochen. Er sei auf dem Weg zu seiner eigenen Hochzeit nach Turin, die eigentlich am Vortag hätte stattfinden sollen, habe Amri gesagt. Seine Braut mache schon Probleme.
Ob der Richter ihm die Geschichte geglaubt habe, wird Pohlmann vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf gefragt. „Ich hatte nicht die Möglichkeit, das zu überprüfen“, sagt dieser, „aber geglaubt habe ich es ihm nicht.“Eine Handhabe, Amri endgültig zu inhaftieren, sieht der Richter nicht.
So knapp wie an diesem Wochenende im Juli 2016 entging Amri seiner Haft nach bisherigen Erkenntnissen nie wieder – eine historische Chance wurde vertan. Mit gefälschten Pässen und Betäubungsmitteln war er am 30. Juli 2016 kurz nach Mitternacht in einem Fernbus erwischt worden, als er ausreisen wollte. Die Polizei nahm ihn daraufhin fest.
Richter Pohlmann wusste nach eigenen Angaben, dass Amri unter verschiedenen Namen lebte und Kontakte zum IS hatte. Er wusste, dass Berliner Behörden involviert waren und dass Amris Telefon überwacht wurde. Pohlmann zufolge hakte es aber an verschiedenen Stellen: Er habe keinen Antrag auf Abschiebehaft stellen können, weil er keine Akte hatte. In der Ausländerbehörde Kleve, die zuständig war, sei an dem Wochenende niemand zu erreichen gewesen, habe ihm eine Beamtin der Ausländerbehörde in Friedrichshafen mitgeteilt. In Kleve weisen sie das zurück. Vom zuständigen Staatsanwalt war laut Pohlmann ebenfalls nichts zu erwarten. Der Strafverfolger hielt einen Haftbefehl für unverhältnismäßig, wie der Richter von Polizisten gehört hatte. Auch sei unklar gewesen „wollen die Berliner Behörden ihn in Haft haben – oder wollen die lieber, dass er geht“? Ihn habe aber nur interessiert, ob er ihn wenigstens vorübergehend festsetzen konnte. Am Samstagabend ordnet er dies damals per einstweiliger An- ordnung an, bis Montag 18 Uhr. Die Zeit drängt, womöglich auch, weil sich Amri in der falschen Haftanstalt befindet. Ravensburg sei nicht zuständig gewesen, weil es sich um einen Fall von Abschiebehaft handele. Sondern vielmehr Pforzheim. Ein rechtswidriger Zustand.
Am Montagmorgen übergibt Pohlmann den Fall an den zuständigen Haftrichter am Amtsgericht. Danach hört er von Amri erst wieder nach dem Anschlag. Inzwischen werden auch die Beamten in Kleve aktiv. Doch es fehlen Passersatzpapiere: „Ich musste dem Haftrichter nachweisen, dass eine Abschiebung binnen drei oder sechs Monaten möglich ist“, sagte gestern ein Sachbearbeiter. Dies sei aussichtslos gewesen, die einstweilige Anordnung der Abschiebehaft muss aufgehoben werden.
Amri kann das Gefängnis in Ravensburg als freier Mann verlassen. Kein halbes Jahr später verübt er den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin.