Rheinische Post Mettmann

„Wir vermissen dich sehr, aber komm nie in die Türkei zurück“

- VON FRANK VOLLMER

Wer Türke ist und gegen Erdogan, muss sich vorsehen, vielleicht sogar von seiner Heimat verabschie­den. Ein Fall aus dem Rheinland.

DÜSSELDORF Murat Sahin war gerade wieder für drei Tage in der Heimat: in Istanbul. Dort wurde er vor 38 Jahren geboren, dort hat er studiert und geheiratet, dort lebt seine Familie. Aber es ist eine Heimat, die Murat Sahin nur noch als Besucher wiedersehe­n will. Wegen Recep Tayyip Erdogan. „Als ich mit dem Taxi in die Stadt fuhr, sagte mir der Fahrer: Wenn ich etwas gegen Erdogan sage, und Sie melden mein Nummernsch­ild, dann bin ich morgen nicht mehr Taxifahrer, sondern wahrschein­lich im Gefängnis“, erzählt Sahin und fügt hinzu: „Das ist kein Land, in dem ich leben kann.“

In Wirklichke­it heißt Murat Sahin anders, aber er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Selbst ein Foto, auf dem sein Gesicht nicht zu sehen wäre, ist ihm zu riskant. So groß ist die Sorge, dass Kritik an Erdogan hier seiner Familie dort schaden könnte: „Wenn ich im Internet auffällig werde, bekommen meine Eltern Probleme.“Vor der Istanbul-Reise hat er alle seine politische­n Einträge aus den sozialen Netzwerken gelöscht. Bleiben durften Fotos mit Freunden in Kneipen (Sahin ist zwar Muslim, Bier trinkt er trotzdem) und vor allem aus Dortmund. Sahin ist BVB-Anhänger – Südtribüne, wann immer es geht, auch gestern, als das Spiel gegen Monaco abgesagt werden musste.

Seit knapp zwei Jahren ist Murat Sahin Deutscher; ihre türkischen Pässe haben er und seine Frau abgegeben. Eigentlich lebte er noch nicht lange genug hier, um eingebürge­rt zu werden. Seine Frau aber schon – und Sahin ist Arzt, also begehrte Fachkraft; bei Ehepartner­n haben die Behörden Spielraum.

Abstimmen durfte er beim Verfassung­sreferendu­m, das Erdogan noch mehr Macht verschaffe­n soll, deshalb nicht mehr. Aber Erdogan ist täglich Thema, etwa mit seinen Patienten in einer rheinische­n Klinik. „Einer kann nicht mehr laufen, aber Erdogan wählen wollte er unbedingt“, erzählt Sahin – für ihn ist das selektive Wahrnehmun­g: „Die meisten sehen nur die Hotels, die Brücken, Tunnels, Autobahnen – und Erdogans Macho-Politik. Das gefällt ihnen, weil sie zwar mental in der Türkei leben, aber keine Ahnung haben, wie es dort wirklich zugeht.“

Die Wirklichke­it ist, dass jeder den Vorwurf „Terrorist“fürchten muss, der Erdogan kritisiert. Istan- bul ist für Murat Sahin heute eine Stadt, in der säkulare Muslime unter der Woche Raki trinken und freitags Fotos aus Moscheen posten, um sich ein religiöses Image zu verpassen: „Das hilft dem Geschäft.“Eine Stadt, in der die Radikalen die Oberhand gewinnen: „Wir linken Türken haben uns nicht genug um unser Land gekümmert. Wir haben nur auf uns geschaut. Das war unser Versäumnis. In der Zwischenze­it haben die Islamisten ganze Arbeit geleistet.“Auch Erdogan war in islamistis­chen Parteien aktiv, bevor er 2001 die AKP gründete. Dass Erdogan am Sonntag ein Ja von den Türken bekommt – da ist sich Sahin sicher: Notfalls werde eben gefälscht.

Murat Sahin hat eine kleine Tochter. „Ich werde ihr die ganze Stadt zeigen“, sagt der Vater, „aber in der Türkei gibt es keine Perspektiv­e, für mich nicht und für sie erst recht nicht.“Das sehen auch andere so: Regelmäßig fragen ihn Schulfreun­de und Kommiliton­en, ob er Arbeitsmög­lichkeiten in Deutschlan­d kenne. Die Zahl der türkischen Asylanträg­e hierzuland­e steigt.

„Solange ich alle sechs oder acht Wochen für ein paar Tage nach Istanbul fliegen kann, ist es okay“, resümiert Murat Sahin. Heimweh? Nein. „Es war ja meine Entscheidu­ng wegzugehen.“Natürlich fehlten ihm Freunde und Familie, das schon – so wie umgekehrt auch.

Die ganze Tragödie der Türkei im Jahr 2017 steckt in zwei simplen Sätzen. „Meine Eltern sagen immer: Wir vermissen dich so sehr“, sagt Murat Sahin. „Und dann sagen sie: Aber komm nie wieder zurück.“

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FOTO: REUTERS Eine Anhängerin Recep Tayyip Erdogans während einer Wahlverans­taltung in Istanbul.

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