Rheinische Post Mettmann

FLUSSFAHRT NRW Die fremde Wählerscha­ft

- VON LISA KREUZMANN

Jeder achte Wähler in NRW hat einen Migrations­hintergrun­d. Eine große Wählergrup­pe, die bislang vernachläs­sigt wurde. Dabei könnten die Parteien gerade dort noch Stimmen gewinnen. Welche Parteien wählen Zuwanderer?

KÖLN Meral Sahin sitzt in ihrem Deko-Geschäft an der Keupstraße umgeben von Papierrose­n, Perlen und Pailletten­bändern und verziert ein Silbertabl­ett. Auf dem serviert sie, was ihr in den Kopf kommt. Klar formuliert und fein verpackt.

Die Vorsitzend­e der Interessen­gemeinscha­ft Keupstraße ist sauer. Jahrelang hat sie sich für das Zusammenle­ben von Deutschen, Türken und Deutsch-Türken eingesetzt. Und jetzt, da Erdogan in Deutschlan­d Wahlkampf macht, soll das gute Verhältnis plötzlich dahin sein?

Ostersonnt­ag entscheide­t sich, ob der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht bekommen soll – gewählt wird auch in Deutschlan­d. Und das stiftet Unfrieden. Engagieren sich die Deutsch-Türken mehr für ihr Herkunftsl­and als für ihre Wahlheimat Deutschlan­d? Sind Menschen mit Migrations­hintergrun­d unpolitisc­h, wenn es um die Politik in Deutschlan­d geht?

Eine Untersuchu­ng des Sachverstä­ndigenrats für Integratio­n und Migration von vergangene­m Jahr hat ergeben, dass sich Zuwanderer nicht weniger für die Parteien in Deutschlan­d interessie­ren. Worin sie sich unterschei­den, sind ihre Parteipräf­erenzen. Demnach wählen Zuwanderer mit 40,1 Prozent mehrheitli­ch die SPD. An zweiter Stelle steht die Union mit 27,6 Prozent, gefolgt von den Grünen (13,2 Prozent) und der Linken (11,3 Prozent). Die Türkeistäm­migen als größte Migranteng­ruppe wählen mit knapp 70 Prozent sogar mit einer starken Mehrheit die SPD. Die Spätaussie­dler und Aussiedler bevorzugen laut Studie die Union (45,2 Prozent). Ebenso wie EU-Neuzuwande­rer aus Osteuropa.

Immerhin jeder achte Wähler in NRW hat laut Statistisc­hem Landesamt einen Migrations­hintergrun­d. Eine große Wählergrup­pe, die bislang vernachläs­sigt wurde. Dabei könnten die Parteien durch eine direktere Ansprache gerade dort noch Wählerstim­men gewinnen, sagt Wahlforsch­er Achim Goerres von der Uni Duisburg-Essen. Aus seiner bisherigen Forschung weiß er: „Es könnte durchaus sein, dass Migranten-Wähler als solche abgeholt werden wollen.“Aber im Grunde wisse man über die fremde Wählerscha­ft viel zu wenig. Nur, dass sie für die Parteien immer wichtiger würde.

Eine Einsicht, die die Parteien nur langsam erreicht. Als CDU-Chef Armin Laschet 2005 erster deutscher Integratio­nsminister wurde, musste er seine Kollegen erst noch davon überzeugen, dass junge Zuwanderer in Deutschlan­d gebraucht würden. Laschet selbst hat seitdem viele Freunde in der türkischen Community. In der CDU nennt man ihn deshalb auch „Türken-Armin“.

Neuerdings kümmert sich sogar die AfD um die Einwandere­r. Der NRW-Landesverb­and hat sein Wahlprogra­mm auch auf Russisch veröffentl­icht. Bei vielen Themen kommen die Aussiedler und Spätaussie­dler mit dem Protest der AfD überein. Sie wünschen sich mehr Ordnung und Sicherheit, haben Angst um ihre Zukunft. Für Eugen Schmidt ist es das „Asylchaos“, das ihm Sorgen bereitet. „Es können nicht alle Menschen nach Deutschlan­d kommen“, sagt der Initiator der Plattform „Russlandde­utsche für AfD NRW“. „Wir haben Angst um unsere Frauen, unsere Kinder und Angst vor dem Terror“, sagt er.

Auf der Keupstraße hofft man, dass die AfD bei der Landtagswa­hl nicht zu stark wird. „Es sind noch ein paar Wochen Zeit“, sagt Ahmet Erdogan, der Vorsitzend des Moscheever­bands in Köln-Mülheim ist. Der 46-Jährige ist außerdem SPD-Mitglied, seine Partei wählen darf er als Türke aber nicht. „Ich hätte schon lange die deutsche Staatsbürg­erschaft annehmen können, aber ich habe gesagt, ich kann mich auch mit türkischem Pass engagieren, genauso einsetzen“, sagt er. „Das wollte ich beweisen.“

Ausländer aus Nicht-EU-Ländern wie der Türkei haben bei Landtagsun­d Bundestags­wahlen kein Wahlrecht. Seit 1992 dürfen EU-Staatsange­hörige an Kommunalwa­hlen teilnehmen. Erst vor wenigen Wochen sind Grüne und SPD mit dem Vorstoß gescheiter­t, das kommunale Wahlrecht auch auf Nicht-EUAuslände­r in NRW auszuweite­n.

Eine Gesetzesän­derung, die vor allem der SPD viele Stimmen hätte einbringen können. Denn darin ist man sich auf der Keupstraße einig: Die Türkischst­ämmigen könne man genauso für Angela Merkel oder Hannelore Kraft begeistern wie für Recep Tayyip Erdogan. Das müsse die deutsche Politik nur begreifen.

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FOTO: REICHWEIN „Du bist nur interessan­t, wenn du etwas geben kannst, nämlich deine Stimme“, sagt Meral Sahin. Sie hat einen deutschen Pass und darf wählen.

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