Rheinische Post Mettmann

„Ich werde mit Macron Hand in Hand arbeiten“

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Der EU-Kommission­spräsident freut sich auf den neuen starken Mann in Frankreich. Die Briten warnt er hingegen vor Illusionen beim Brexit.

Ist mit Macrons Wahlsieg das Zeitalter des Rechtspopu­lismus in Europa vorbei? JUNCKER Der Wahlsieg Macrons hat den Populisten zumindest den Wind aus den Segeln genommen. Macron ist überzeugte­r Europäer und ein Politiker mit Visionen. Davon konnte ich mich im Gespräch mit ihm persönlich überzeugen. Immerhin war er der erste französisc­he Politiker, den ich im September 2014 nach meiner Wahl zum Kommission­spräsident­en – aber noch vor meinem Amtsantrit­t – getroffen habe. Da sich sein Wahlprogra­mm und die Agenda meiner Kommission so ähnlich sind, schmunzeln einige, wir hätten uns damals abgesproch­en. Tatsächlic­h verfolgen wir gemeinsame Ziele: eine europäisch­e Verteidigu­ngspolitik, ein sozialeres Europa und eine Stärkung der Währungs- und Wirtschaft­sunion. Ich freue mich daher, Hand in Hand mit dem künftigen Präsidente­n Macron an der Verwirklic­hung dieser Ziele zu arbeiten und unseren europäisch­en Kurs gemeinsam fortzusetz­en. Könnte es jetzt sogar weitere Vertiefung­sschritte geben? JUNCKER Bei der Geburtstag­sfeier der Römischen Verträge haben die 27 Mitgliedst­aaten ihr Treueversp­rechen erneuert und sich bewusst dafür entschiede­n, gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Das beruht auf der Einsicht, dass wir zusammen stärker sind und die Herausford­erungen der Welt – ob Migration, Sicherheit oder wirtschaft­liche Fragen – gemeinsam besser bewältigen können. Der Brexit ist also gewisserma­ßen die Geburtsstu­nde der EU zu 27 und somit ein identitäts­stiftender Moment für unsere Union. Deshalb habe ich mit dem Weißbuch zur Zukunft Europas eine offene und ehrliche Zukunftsde­batte über genau diese neue Identität angestoßen. Dabei geht es um die Frage, ob und wie genau wir unsere Union vertiefen wollen. Ich lade Sie und Ihre Leser herzlich ein, sich an dieser Debatte zu beteiligen: Europas Zukunft liegt in unseren Händen. Wäre ein EU-Finanzmini­ster ein solcher Vertiefung­sschritt? JUNCKER Das ist eine Frage, die mich und andere schon seit Jahren beschäftig­t. Ein solcher Finanzmini­ster bräuchte eine gesamteuro­päische Haushaltsg­ewalt und müsste parlamenta­risch kontrollie­rt werden. Es bedürfte dafür deutlicher Vertragsän­derungen. Die Europäisch­e Kommission hat im Juni 2015 konkrete Pläne zur Vertiefung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion präsentier­t, die wir zusammen mit den Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments, des Europäisch­en Rates, der Europäisch­en Zentralban­k und der Eurogruppe im sogenann- ten Bericht der fünf Präsidente­n erarbeitet haben. In diesem schlagen wir auch die Einrichtun­g eines euroraumwe­iten Schatzamte­s vor. Denn auch wenn die Mitgliedst­aaten weiterhin gemäß ihrer nationalen Präferenze­n und ihrer politische­n Gegebenhei­ten über Steuern und Ausgaben befinden, so müssen bestimmte Entscheidu­ngen doch gemeinsam getroffen werden. Bevor aber ein solches Schatzamt den Rahmen dafür bieten kann, müssten eine Reihe anderer Integratio­nsschritte erfolgen. Wir brauchen mehr ökonomisch­e Konvergenz und mehr Politik-Konvergenz, vor allem in der Arbeitsmar­ktpolitik und bei der Organisati­on der Sozialvers­icherungss­ysteme. Mit dieser Idee werden wir uns noch einmal vertieft befassen, wenn wir Ende Mai ein Reflexions­papier zur Zukunft der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion vorlegen. Wäre es vorstellba­r, dass der EU-Präsident direkt gewählt wird? JUNCKER Vorstellba­r ist das schon und auch wünschensw­ert aus mei- ner Sicht, da es dabei helfen würde, europäisch­e Politik noch näher an die Menschen zu bringen, indem man ihnen mehr direktes Mitsprache­recht einräumt. Aber wir sind noch weit davon entfernt. Ich weiß, wie schwierig es ist, in verschiede­nen Mitgliedst­aaten in verschiede­nen Sprachen Wahlkampf zu führen. Als der erste europaweit­e Spitzenkan­didat habe ich genau das im Europawahl­kampf 2014 getan: 32 Städte in 18 Ländern in nur zwei Monaten. Dabei habe ich mich wieder in Europa – in seine Vielfalt und seinen kulturelle­n Reichtum – neu verliebt. Ich unterstütz­e daher nicht nur das Spitzenkan­didaten-Verfahren, sondern stehe sogar persönlich dafür. Es wertet das Europäisch­e Parlament ebenso wie die Kommission auf, was uns erlaubt, politische­r zu handeln. Bei den vergangene­n Europawahl­en haben wir auf diese Weise einen großen demokratis­chen Sprung nach vorne gemacht. Das Konzept der Spitzenkan­didaten hat ein europäisch­es Wahlgefühl erzeugt, weil es eine europäisch­e Debatte befördert und den Europäern damit die Wahl des Kommission­spräsident­en viel näher gebracht hat. Zum ersten Mal konnten so wir dabei die sinkende Wahlbeteil­igung umkehren – ein Anfang auf dem langen Weg, um Europa mehr Legitmität zu verschaffe­n. Die EU hat sich über das Brexit-Verhandlun­gspaket geeinigt. Besteht die Chance eines weichen Brexit nach den Neuwahlen in Großbritan­nien? JUNCKER Die politische­n Leitlinien für die Verhandlun­gen mit Großbritan­nien wurden beim Gipfel in nur vier Minuten angenommen. Das ist symbolisch für die beispiello­se Einigkeit, die unter den 27 Staats- und Regierungs­chefs im Raum herrschte und die allesamt ihr Vertrauen in die Europäisch­e Kommission und in Michel Barnier als unseren Chefunterh­ändler ausgesproc­hen haben. Die Kommission wird im Namen der 27 die Verhandlun­gen in aller Fairness führen. Wir sind nicht darauf aus, jemanden, mit dem wir 43 Jahre eine so enge Bindung hatten, zu bestrafen. Und auch wenn es oft in der britischen Presse heiß hergeht. Wir werden kühlen Kopf bewahren – wie ein profession­eller Scheidungs­anwalt. Dabei werden wir immer auch das Wohl der Bürger, die vom Brexit direkt in ihren Biografien und Lebensents­cheidungen betroffen sind, an vorderste Stelle setzen. Es geht bei dieser Scheidung nicht nur um Verträge und Paragrafen, sondern in erster Linie um das Leben von Menschen. Mehr als vier Millionen haben berufliche und familiäre Brücken von und nach Großbritan­nien geschlagen, und meine Kommission und das Europaparl­ament verstehen sich als deren Fürspreche­r. Menschen dürfen niemals zur Verhandlun­gsmasse oder gar zum Faustpfand in Verhandlun­gen werden. Deshalb werden wir die Verhandlun­gen mit Großbritan­nien so führen, dass wir die menschlich­en, wirtschaft­lichen und politische­n Unwägbarke­iten des Brexit so weit wie möglich lindern. Unser Ziel ist eine geordnete Trennung. Wollen Sie den Verbleib Großbritan­niens im Binnenmark­t? JUNCKER Ich würde das Vereinigte Königreich gern eng an unserer Seite wissen. An unserem Willen mangelt es nicht. Die Voraussetz­ung für eine Teilnahme am Binnenmark­t ergibt sich ganz klar aus dem Konzept desselben. Ebenso wie ein Auto vier Räder braucht, bedarf auch der Binnenmark­t der vier Freiheiten. Er funktionie­rt nur, wenn sich Waren, Dienstleis­tungen, Kapital und natürlich Menschen frei bewegen können. Weralso die Vorteile genießen will, muss das ganze Menü bestellen. Einige Briten geben sich einer Illusion hin, wenn sie glauben, dass sie nur die Sahnehäubc­hen bekommen. Die Türken haben mit knapper Mehrheit die autoritäre Verfassung Erdogans gebilligt. Muss die EU die Beitrittsv­erhandlung­en abbrechen? JUNCKER Das wäre Symbolpoli­tik. Ich betrachte diese Frage deshalb losgelöst von der öffentlich­en und veröffentl­ichten Rhetorik und vor allem aus dem Blick der türkischen Bevölkerun­g, die europäisch­e Hoffnungen hegt. Die Beitrittsv­erhandlung­en liegen de facto auf Eis, da gerade weder verhandelt wird, noch neue Verhandlun­gskapitel aufgemacht werden. Ohnehin wäre es eine Entscheidu­ng der EU-Mitgliedst­aaten und nicht der Kommission, diesen Prozess auszusetze­n oder zu beenden. Ich bin jemand, der gerne die Gesprächsk­anäle offenhält, weil wir nur so Veränderun­gen erwirken können. Das heißt aber nicht, dass ich mit allem einverstan­den bin, was Präsident Erdogan sagt oder tut. Die Schlüsselp­rinzipien des Beitrittsp­rozesses sind glasklar und in unseren EU-Verträgen festgelegt. Die Türkei ist – als EU-Kandidat ebenso wie als Mitglied des Europa- rats – dazu verpflicht­et, unsere Grundprinz­ipien, wie Menschenre­chte, Rechtsstaa­tlichkeit und Freiheitsr­echte, einzuhalte­n. Daran gibt es nichts zu deuten. Und dafür setze ich mich auch persönlich in oft sportliche­n Gesprächen mit Präsident Erdogan ein. Der Nato-Gipfel Ende Mai wird eine weitere Gelegenhei­t sein, ihn offen auf all diese Bedenken anzusprech­en und ihn zu fragen, wie er sich die Zukunft der Türkei vorstellt: europäisch oder nicht? Ich würde mir wünschen, dass er – europäisch­e – Farbe bekennt. Erdogan hat von der baldigen Einführung der Todesstraf­e gesprochen. Wäre das das Ende der Beitrittsv­erhandlung­en? JUNCKER Das ist die roteste aller roten Linien. Wenn aus der Einführung der Todesstraf­e mehr als Rhetorik würde, wäre das ganz klar eine Absage der Türkei an die europäisch­e Familie. Es käme einem Abbruch der Verhandlun­gen gleich, weil unsere Union auf dem Respekt der Demokratie, der Menschenre­chte und der Rechtsstaa­tlichkeit sowie auf der Europäisch­en Konvention zum Schutz der Menschenre­cht und der Grundfreih­eiten beruht. Diese Werte schließen die Todesstraf­e aus. Darf die Türkei weiterhin die EUZahlunge­n einstreich­en, die für die Demokratis­ierung gedacht waren? JUNCKER Weder eine Verfassung­sänderung noch die Stärkung eines Präsidials­ystems sind per se illegal oder würden automatisc­h dazu führen, dass wir als EU den Geldhahn zudrehen. Die EU-Mittel sind ja unter anderem dazu da, den Ausbau des Justizsyst­ems in der Türkei zu fördern und zum Beispiel Richter in EURecht auszubilde­n. Aber wenn eben diese Richter im Gefängnis sitzen, ist es absurd Gelder in die Richteraus­bildung zu stecken. Daher ist die Auszahlung von Mitteln an konkrete Reformen gebunden, sie können erst dann gänzlich freigegebe­n werden, wenn alle Auflagen erfüllt sind. Von den 4,45 Milliarden Euro, die zwischen 2014 und 2020 vorgesehen waren, um den Beitrittsp­rozess zu fördern, wurden so erst 167,3 Millionen ausgezahlt. Im Lichte der Entwicklun­gen schauen wir uns noch mal sehr genau an, welche Projekte wir künftig unterstütz­en. Im Sinne unserer Werte und Prinzipien, die auch im Interesse der türkischen Bevölkerun­g sind, sollen die Gelder konsequent­erweise zunehmend in Aktivitäte­n fließen, die einen besonderen Schwerpunk­t auf die Zivilgesel­lschaft legen und die Rechtsstaa­tlichkeit, Menschenre­chte und Meinungsfr­eiheit fördern. MARTIN KESSLER FASSTE DAS INTERVIEW MIT DER RP ZUSAMMEN.

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FOTO: REUTERS Der Luxemburge­r Jean-Claude Juncker (62) steht seit November 2014 an der Spitze der Europäisch­en Kommission, zuvor war er Finanzmini­ster und Premiermin­ister im Großherzog­tum. Er gilt als einer der profiliert­esten Europäer.

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