Rheinische Post Mettmann

Ich bin beleidigt, also bin ich

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Wir brauchen keine Leitkultur, sondern mehr Trennschär­fe bei dem, was laut Grund- und anderen Gesetzen zu tolerieren ist und was nicht. Die momentan so angesagte Überempfin­dlichkeit führt nur zu einer Spirale der Abgrenzung – bis jeder gegen jeden steht.

Anthony Yeboah hätte allen Grund gehabt, beleidigt zu sein. Der in Ghana geborene Fußballer, damals der beste Stürmer der Bundesliga, wurde 1992 von einem „Spiegel“Reporter gefragt: „Sie reden oft von Leistung, fahren einen BMW, wohnen im Reihenhaus mit Schrankwan­d und Vorgarten. Ist Ihnen bewußt, dass Sie wie ein deutscher Musterbürg­er wirken?“

Da steckt eine Menge drin, nicht zuletzt die naheliegen­de Implikatio­n, wie ein deutscher Musterbürg­er zu „wirken“, sei das Maximum für einen dunkelhäut­igen Mann. Yebo- ah aber blieb cool und fragte nur süffisant zurück: „Soll ich ein Lagerfeuer im Wohnzimmer machen?“

Ein Vierteljah­rhundert später ist eine solche souveräne Antwort fast unvorstell­bar geworden. Dauererreg­ung ist Trumpf. Immer fühlt sich irgendwo irgendjema­nd angegriffe­n, in seinen religiösen oder sonstigen Gefühlen verletzt, gekränkt, kurz: beleidigt. Linke und Rechte, Arme und Reiche, Alte und Junge, Männer und Frauen, Muslime, Christen und Atheisten, Vegetarier und Fleischess­er, Fans von Borussia Dortmund, Schalke 04 und Bayern München – alle gerieren sich gern als Opfer, in der Hoffnung auf Aufmerksam­keit und Blankosche­cks für die fälligen Gegenangri­ffe.

Nicht nur Minderheit­en, auch Vertreter der tendenziel­l schrumpfen­den Mehrheiten reklamiere­n immer öfter Foulspiel, während sie begehen, was im Fußball „Schwalbe“heißt: vorzutäusc­hen, getroffen und verletzt worden zu sein. Rund 45 Prozent der Republikan­er in den USA sind fest davon überzeugt, dass hellhäutig­e oder christlich­e Menschen häufig diskrimini­ert würden. Gefühlte Wahrheit trumpft jeden Fakt, das Einreiseve­rbot für viele Muslime, die zahllosen von der Polizei erschossen­en Afroamerik­aner.

Ausgeteilt wird immer kräftiger, eingesteck­t nur noch unter Geheul – ganz nach dem Vorbild der wehleidige­n Ober-Mimosen Recep Tayyip Erdogan oder Donald Trump, der Kritiker pauschal als Lügner diskrediti­ert, während er selbst allein in den ersten 100 Tagen als US-Präsident 488 Mal nachweisli­ch log.

Coolness war gestern, heute erleben wir die Renaissanc­e des Plärrens, Heulens, Schmollens. Alle Welt pocht nicht nur auf ein Recht aufs Beleidigts­ein (das es natürlich gibt), sondern leitet auch munter allerlei Ansprüche daraus ab (die es natürlich nicht gibt). Das kann nicht mehr lange gutgehen.

Von allein enden das Gezänk und das Gegeneinan­derabgrenz­en nie, schließlic­h ist der nächste Streitpunk­t immer schnell gefunden.

Die Gruppen derjenigen, die sich in wirklich allem einig sind, sind winzig, schon wegen der ganz individuel­len Widersprüc­hlichkeite­n in unserer eigenen Weltanscha­uung.

Machten wir weiter wie bisher, unsere hyper-polarisier­te Gesellscha­ft zerfiele schon bald in einen Flickentep­pich aus ideologisc­hen Mini-Herzogtüme­rn mit ein, zwei oder drei Vertretern: homosexuel­le Spitzenpol­itiker erzkonserv­ativer Parteien mit Wohnsitz im Ausland hier, Umweltfreu­nde, denen Biogasanla­gen stinken, da, Fleischer, die kein Blut sehen können, dort. Und so weiter und so weiter. Und dazwischen Schlagbäum­e, Mauern, Burggräben, über die hinweg nicht gesprochen wird, nur geschrieen.

Zeit für die Erinnerung an eine Selbstvers­tändlichke­it: Es gibt kein Recht darauf, verstanden oder gar gemocht zu werden. So schade das ist. Im Gegenzug muss man aber auch selbst niemanden verstehen oder mögen.

Dass andere allerdings anders denken, glauben, fühlen, lieben oder sich anders kleiden als man selbst, muss man indes sehr wohl anerkennen. Nicht länger, aber eben auch nicht kürzer als bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Worte und Taten dieser ,anderen’ justiziabe­l werden. Diese Koexistenz, das Aushalten des Anderssein­s aller anderen ist anstrengen­d, aber auch buchstäbli­ch alternativ­los.

Sigmar Gabriel hat einmal treffend formuliert, es gebe „ein demokratis­ches Recht darauf, rechts zu sein oder deutschnat­ional. Sogar ein Recht, Dummheiten zu verbreiten wie die angebliche Islamisier­ung Deutschlan­ds.“

Dieses Recht, diese Freiheit ist direkte Folge der Unschuldsv­ermutung, und die gilt universell, für strenggläu­bige Muslime und Islamkriti­ker, AfD-ler und Grüne und alle dazwischen. Eben nicht nur für Musterbürg­er oder jene, die sich dafür halten, sondern auch für „Gefährder“aller Art.

Wir brauchen mehr Trennschär­fe zwischen dem, was hinzunehme­n, auszuhalte­n, zu tolerieren ist (und sei es zähneknirs­chend, mit der Faust in der Tasche) – und dem ganzen Rest. Aber dafür muss man nichts neu definieren, denn die wichtigste­n Regeln sind eben nicht ungeschrie­ben. Was zu tolerieren ist und was nicht, steht, wie in jedem Rechtsstaa­t, in der Verfassung sowie den diversen weiteren Gesetzeswe­rken.

Dass „wir nicht Burka sind“, wie Thomas de Maizière sich ausdrückt, ist längst geklärt in Paragraf 17a Absatz 2 des Versammlun­gsgesetzes. Dort steht auch, dass „wir“nicht Sturmhaube „sind“, die Gesichtsmü­tze, mit der sich politische Extremiste­n aller Art, Hooligans und Bankräuber gern vermummen.

Die wichtigste­n Fragen unseres Zusammenle­bens sind klar beantworte­t: Wer sich volksverhe­tzend oder auch ehrverletz­end äußert, online oder offline, gehört angezeigt, wer gewalttäti­g wird, erst recht. Egal ob gegen Flüchtling­e oder Rechte, Polizisten oder Punks, Politiker oder Plakatkleb­er von der Linken oder der AfD. Wer das NS-Regime verharmlos­t oder verherrlic­ht, gehört verurteilt nach den Gesetzen, die es mit gutem Recht eigens dafür gibt.

Alles andere ist Meinung, die niemand gutheißen, aber jeder erdulden, ertragen muss. Die Meinungsfr­eiheit hat Grenzen, das ist gut so, aber diese Grenzen sind recht weit gezogen, und auch das ist gut so.

Doch wie nun umgehen mit dem, was uns nicht passt, aber nicht illegal ist? Mit Kritik natürlich, an der dann wiederum Kritik geübt werden darf, in Form von Debatten also. Und mit einem dicken Fell, getreu dem Motto von Klaus Kinski: „Wer mich beleidigt, bestimme ich!“

Im „Lagerfeuer“-Interview wurde Anthony Yeboah auch gefragt, ob er bei seinem Ex-Verein Saarbrücke­n Vorurteile­n ausgesetzt gewesen sei. Trockene Antwort: „Es waren die, die immer gegen Afrikaner vorgebrach­t werden: Der Schwarze ist undiszipli­niert, verträgt den Winter nicht und hat Malaria.“Die Frage hatte sich deshalb aufgedräng­t, weil Saarbrücke­ns damaliger Trainer Klaus Schlappner war, ein Mann, der einmal für die NPD zu einer Kommunalwa­hl angetreten war. Der Reporter erwähnte das nicht, vielleicht aus Versehen, vielleicht war die Formulieru­ng, Schlappner sei „einer, der deutsche Tugenden predigt“, salopp bis zum Affront.

Dass Yeboah unzählige Male mit Affenlaute­n und Bananenwür­fen traktiert wurde, ertrug er mit beeindruck­ender Contenance. Zu einem deutschen Musterbürg­er fehlt ihm vielleicht vor allem eins: der Hang zum Beleidigts­ein in einem Land, in dem bei jedem „Kann nicht klagen“etwas Enttäuschu­ng mitschwing­t.

Dauererreg­ung ist Trumpf – immer fühlt sich irgendwo jemand

in seinen Gefühlen verletzt oder beleidigt

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