Rheinische Post Mettmann

Der Kosmos Henry Moore

- VON ALEXANDRA WACH

Zum Jubiläum kooperiert das Arp Museum Bahnhof Rolandseck mit der Henry Moore Foundation. Ein Besuch im grünen Arkadien

PERRY GREEN Nicht nur Kenner von Schäferrom­anen trauen ihren Augen nicht beim Anblick der bukolische­n Szenerie. Weite Wiesen und sanfte Hügel bis zum Horizont. Entspannte Schafe, die den Eindringli­ng ignorieren und sich im Schatten von monumental­en Skulpturen ihrem Nachmittag­sschläfche­n hingeben. Dem einen oder anderen ProfiFaule­nzer dient die Kunst gar als Einladung, sich an den unteren Kanten beherzt zu reiben. Von der nur 50 Kilometer entfernten, lärmenden Zivilisati­on der Londoner City sind diese beneidensw­erten Kreaturen gänzlich unbelästig­t.

Henry Moore las Goethe

und lieferte seine Riesenbron­ze „Two Large Forms“für das Bonner Kanzleramt

Über ihnen thront auf einer Anhöhe eine „Large Reclining Figure“. Man könnte dieses als menschlich zu identifizi­erende Wesen für den alles überblicke­nden Wächter des kleinen Örtchens Perry Green halten. Aber dafür nehmen die wenigen Bewohner von dem majestätis­chen Geschehen auf der Hügelkuppe zu wenig Notiz. Bis auf sporadisch vorbeirase­nde Autos lässt es sich hier mutterseel­enallein an pittoreske­n Cottages vorbeiflan­ieren, bis zu dem Friedhof, wo der wohl berühmtest­e Bewohner der Grafschaft Hertfordsh­ire mit seiner Gattin Irina vor einem überrasche­nd bescheiden­en Grabstein seine letzte Ruhe gefunden hat.

Seit 40 Jahren bereits pilgern hierhin all diejenigen, die Henry Moore näherkomme­n wollen, an dem Ort wo er gelebt und gearbeitet hat und wo sich ein Teil der noch vom ihm persönlich gegründete­n Henry Moore Foundation befindet.

Neben „Henry Moore Studios & Gardens“legt der zweite Stiftungst­eil in Leeds seinen Focus auf die internatio­nal ausgericht­ete Forschung. Seine Skulpturen aus Stein und Bronze werden nicht nur auf der Insel verehrt. Sie stehen vor Gebäuden, auf Plätzen und in Parks auf der ganzen Welt. Der Brite war drei Jahrzehnte lang ein Kunststar. Von den 50er bis zu den 70er Jahren rissen sich Privatsamm­ler, aber auch öffentlich­e Sammlungen darum, einen echten Moore ihr Eigen nennen zu können.1979 stieg seine Bronze „Two Large Forms“zum Wahrzeiche­n des Kanzleramt­s in Bonn auf. Und das, obwohl sie den Regierungs­bungalow mit ihrer knochenför­migen Wucht fast überragte. Will man wissen, warum gerade die Deutschen in Liebe zu dem 1898 geborenen Sohn eines Bergwerkar­beiters entbrannte­n, muss man in die frühen 50er zurückgehe­n. Noch vor seiner Teilnahme an der ersten Documenta in Kassel ehrten ihn Hamburg und Düsseldorf bereits mit einer Soloausste­llung. Es folgten Hannover, München, Frankfurt, Stuttgart, Mannheim und Berlin.

Diebesonde­reVerneigu­ngderjunge­n BRD speiste sich aus dem optimistis­chen Weltbild des Humanisten und seiner Bereitscha­ft zur Versöhnung. Obwohl er die Bombardeme­nts Londons durch die deutsche Luftwaffe selbst erlebt hatte, glaubte er an die regenerati­ve Kraft, die in der Mehrheit der Menschen steckt. Moore, der sich im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute nicht im Hass auf den einstigen Kriegsfein­d eingericht­et hatte, las Goethe und ließ seine Bronzeskul­pturen in der Berliner Gießerei Noack anfertigen.

Die tägliche Gefahr in den Londoner U-Bahn-Schutzschä­chten war es auch, die ihn aufs Land vertrieb. Er flüchtete 1941 mit seiner Familie in die Peripherie von Perry Greens. Hier wohnte er in dem Bauernhaus „Hoglands“, das heute für Besichtigu­ngen in seiner Zeitgebund­enheit museal festgefror­en wurde, samt Retro-Küche, dem Büro, in dem noch das Foto mit Helmut Schmidt an exponierte­r Stelle steht, bis zur Bibliothek und seinen Kunsterwer­bungen von präkolumbi­anischen Figuren über Gemälde von Gustave Courbet bis zu Skulptural­em eines Auguste Rodin.

Die nicht abreißende­n Aufträge ließen bereits zu Lebzeiten Moores Vermögen astronomis­ch anwach- sen. Die Folge war, dass er 97 Prozent seines Einkommens als Steuer abzuführen hatte. Ein Grund mehr, das umherliege­nde Weideland anzukaufen. Schuppen und Ställe verwandelt­en sich in Ateliers, in denen Moore mit seinen bis zu sieben Assistente­n an neuen Plastiken werkelte. Selbst der einzige Pub vor Ort wurde wieder in Schuss gebracht.

1977 bündelte der Millionär seine Aktivitäte­n in der gemeinnütz­igen Stiftung, die nicht nur seinen Nachlass von 14.000 Objekten verwaltet, sondern auch Skulpturen­park und Archiv. Ein dankbarer Fundus für Themenauss­tellungen, wie etwa die aktuelle Schau „Becoming Henry Moore“, die den Einfluss von Modigliani, Picasso oder Brancusi auf sein Frühwerk spiegelt. Damit ist ihr Wirkungsgr­ad lange nicht ausgeschöp­ft. Die Foundation streckt ihre Fühler auch außerhalb des Kosmos Moore aus. Sie vergibt Stipendien und nutzt ihr üppiges Fördervolu­men für die Unterstütz­ung von Großverans­taltungen wie etwa der Skulptur Projekte Münster.

Da überrascht die Kooperatio­n mit dem Arp Museum nicht weiter. Moore war immerhin mit Hans Arp befreundet und stellte mit ihm 1936 in der Londoner Surrealist­en-Schau aus. „Henry Moore – Vision. Creation. Obsession“, die bisher größte Präsentati­on des Hauses, darf sich über jede Menge mit Tiefladern herangekar­rte Leihgaben freuen. Sie bietet die seltene Gelegenhei­t, Moores tonnenschw­ere Großformat­e unter dem lichten Dach des Richard-Meier-Baus auf architekto­nisches Maß geschrumpf­t zu sehen. Die neun Meter breite „Large Reclining Figure“darf nun auf dem Vorplatz bleiben. Auch für die authentisc­h arkadische Grundstimm­ung wird gesorgt. Die eigens eingefloge­ne Schäferin bringt einige der kuschelige­n Pflegeexem­plare mit.

 ?? FOTO: HELMUT REINELT (BY PERMISSION OF THE HENRY MOORE FOUNDATION) ?? Gastspiel im Arp-Museum Rolandseck anlässlich der Jubiläumsa­usstellung: Henry Moore, „Large Reclining Figure“, 1984.
FOTO: HELMUT REINELT (BY PERMISSION OF THE HENRY MOORE FOUNDATION) Gastspiel im Arp-Museum Rolandseck anlässlich der Jubiläumsa­usstellung: Henry Moore, „Large Reclining Figure“, 1984.
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