Der Kosmos Henry Moore
Zum Jubiläum kooperiert das Arp Museum Bahnhof Rolandseck mit der Henry Moore Foundation. Ein Besuch im grünen Arkadien
PERRY GREEN Nicht nur Kenner von Schäferromanen trauen ihren Augen nicht beim Anblick der bukolischen Szenerie. Weite Wiesen und sanfte Hügel bis zum Horizont. Entspannte Schafe, die den Eindringling ignorieren und sich im Schatten von monumentalen Skulpturen ihrem Nachmittagsschläfchen hingeben. Dem einen oder anderen ProfiFaulenzer dient die Kunst gar als Einladung, sich an den unteren Kanten beherzt zu reiben. Von der nur 50 Kilometer entfernten, lärmenden Zivilisation der Londoner City sind diese beneidenswerten Kreaturen gänzlich unbelästigt.
Henry Moore las Goethe
und lieferte seine Riesenbronze „Two Large Forms“für das Bonner Kanzleramt
Über ihnen thront auf einer Anhöhe eine „Large Reclining Figure“. Man könnte dieses als menschlich zu identifizierende Wesen für den alles überblickenden Wächter des kleinen Örtchens Perry Green halten. Aber dafür nehmen die wenigen Bewohner von dem majestätischen Geschehen auf der Hügelkuppe zu wenig Notiz. Bis auf sporadisch vorbeirasende Autos lässt es sich hier mutterseelenallein an pittoresken Cottages vorbeiflanieren, bis zu dem Friedhof, wo der wohl berühmteste Bewohner der Grafschaft Hertfordshire mit seiner Gattin Irina vor einem überraschend bescheidenen Grabstein seine letzte Ruhe gefunden hat.
Seit 40 Jahren bereits pilgern hierhin all diejenigen, die Henry Moore näherkommen wollen, an dem Ort wo er gelebt und gearbeitet hat und wo sich ein Teil der noch vom ihm persönlich gegründeten Henry Moore Foundation befindet.
Neben „Henry Moore Studios & Gardens“legt der zweite Stiftungsteil in Leeds seinen Focus auf die international ausgerichtete Forschung. Seine Skulpturen aus Stein und Bronze werden nicht nur auf der Insel verehrt. Sie stehen vor Gebäuden, auf Plätzen und in Parks auf der ganzen Welt. Der Brite war drei Jahrzehnte lang ein Kunststar. Von den 50er bis zu den 70er Jahren rissen sich Privatsammler, aber auch öffentliche Sammlungen darum, einen echten Moore ihr Eigen nennen zu können.1979 stieg seine Bronze „Two Large Forms“zum Wahrzeichen des Kanzleramts in Bonn auf. Und das, obwohl sie den Regierungsbungalow mit ihrer knochenförmigen Wucht fast überragte. Will man wissen, warum gerade die Deutschen in Liebe zu dem 1898 geborenen Sohn eines Bergwerkarbeiters entbrannten, muss man in die frühen 50er zurückgehen. Noch vor seiner Teilnahme an der ersten Documenta in Kassel ehrten ihn Hamburg und Düsseldorf bereits mit einer Soloausstellung. Es folgten Hannover, München, Frankfurt, Stuttgart, Mannheim und Berlin.
DiebesondereVerneigungderjungen BRD speiste sich aus dem optimistischen Weltbild des Humanisten und seiner Bereitschaft zur Versöhnung. Obwohl er die Bombardements Londons durch die deutsche Luftwaffe selbst erlebt hatte, glaubte er an die regenerative Kraft, die in der Mehrheit der Menschen steckt. Moore, der sich im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute nicht im Hass auf den einstigen Kriegsfeind eingerichtet hatte, las Goethe und ließ seine Bronzeskulpturen in der Berliner Gießerei Noack anfertigen.
Die tägliche Gefahr in den Londoner U-Bahn-Schutzschächten war es auch, die ihn aufs Land vertrieb. Er flüchtete 1941 mit seiner Familie in die Peripherie von Perry Greens. Hier wohnte er in dem Bauernhaus „Hoglands“, das heute für Besichtigungen in seiner Zeitgebundenheit museal festgefroren wurde, samt Retro-Küche, dem Büro, in dem noch das Foto mit Helmut Schmidt an exponierter Stelle steht, bis zur Bibliothek und seinen Kunsterwerbungen von präkolumbianischen Figuren über Gemälde von Gustave Courbet bis zu Skulpturalem eines Auguste Rodin.
Die nicht abreißenden Aufträge ließen bereits zu Lebzeiten Moores Vermögen astronomisch anwach- sen. Die Folge war, dass er 97 Prozent seines Einkommens als Steuer abzuführen hatte. Ein Grund mehr, das umherliegende Weideland anzukaufen. Schuppen und Ställe verwandelten sich in Ateliers, in denen Moore mit seinen bis zu sieben Assistenten an neuen Plastiken werkelte. Selbst der einzige Pub vor Ort wurde wieder in Schuss gebracht.
1977 bündelte der Millionär seine Aktivitäten in der gemeinnützigen Stiftung, die nicht nur seinen Nachlass von 14.000 Objekten verwaltet, sondern auch Skulpturenpark und Archiv. Ein dankbarer Fundus für Themenausstellungen, wie etwa die aktuelle Schau „Becoming Henry Moore“, die den Einfluss von Modigliani, Picasso oder Brancusi auf sein Frühwerk spiegelt. Damit ist ihr Wirkungsgrad lange nicht ausgeschöpft. Die Foundation streckt ihre Fühler auch außerhalb des Kosmos Moore aus. Sie vergibt Stipendien und nutzt ihr üppiges Fördervolumen für die Unterstützung von Großveranstaltungen wie etwa der Skulptur Projekte Münster.
Da überrascht die Kooperation mit dem Arp Museum nicht weiter. Moore war immerhin mit Hans Arp befreundet und stellte mit ihm 1936 in der Londoner Surrealisten-Schau aus. „Henry Moore – Vision. Creation. Obsession“, die bisher größte Präsentation des Hauses, darf sich über jede Menge mit Tiefladern herangekarrte Leihgaben freuen. Sie bietet die seltene Gelegenheit, Moores tonnenschwere Großformate unter dem lichten Dach des Richard-Meier-Baus auf architektonisches Maß geschrumpft zu sehen. Die neun Meter breite „Large Reclining Figure“darf nun auf dem Vorplatz bleiben. Auch für die authentisch arkadische Grundstimmung wird gesorgt. Die eigens eingeflogene Schäferin bringt einige der kuscheligen Pflegeexemplare mit.