Rheinische Post Mettmann

Der Verfall des Westens

- VON MARTIN KESSLER

BERLIN Die lange Kanzlersch­aft Angela Merkels, so werden es einmal die Geschichts­bücher schreiben, war durch drei existenzie­lle Krisen gekennzeic­hnet: den Zusammenbr­uch des Finanzsyst­ems und die Überschuld­ung der südlichen Euro-Länder, der Ankunft von mehr als einer Million Flüchtling­e in nur wenigen Monaten und schließlic­h den offenen Dissens zwischen den USA und ihren Verbündete­n über die Zukunft der westlichen Werte-, Wirtschaft­s- und Sicherheit­sgemeinsch­aft. Ähnlich wie beim anderen großen Vernunft-Kanzler Helmut Schmidt könnte es ihr Verdienst sein, Deutschlan­d durch diese Krisen geführt zu haben, ohne dass es zu gewaltigen Wohlstands­verlusten oder Turbulenze­n kam. So oder so: Die Welt ist jedenfalls im 17. Jahr des 21. Jahrhunder­ts eine völlig andere als zum Ende des Millennium­s. Und ausgerechn­et die westliche Wertegemei­nschaft ist gefährdet wie nie zuvor.

Noch leben wir in einer Welt, die vom Westen, seinen Überzeugun­gen, seinem Wirtschaft­ssystem und seiner Technologi­e geprägt ist. Zwei Drittel aller Güter und Dienstleis­tungen, die auf der Welt produziert werden, stammen von westlichen Ländern. Orchester, Filmproduk­tionen, Top-Universitä­ten, Nobelpreis­e oder Patente – sie alle sind Produkte vornehmlic­h dieser Weltgegend. Doch das Band zwischen diesen Staaten, das der kommunisti­schen Bedrohung standgehal­ten hatte, Deutschlan­d den Wiederaufs­tieg und die Einheit bescherte und bislang alle Weltkrisen mit einer Mischung aus Diplomatie, Standfesti­gkeit und militärisc­her Stärke unter Kontrolle brachte, ist brüchig geworden.

Der G7-Gipfel von Taormina hat wie ein Brandbesch­leuniger gewirkt. Fast ohne Vorwarnung waren sich die sieben größten westlichen Industriel­änder auf einmal in wichtigen Fragen nicht mehr einig – beim Klima, beim Freihandel, beim humanen Umgang mit Flüchtling­en. Ausgerechn­et die große Transatlan­tikerin Merkel ging nach dem Scheitern dieses Gipfels auf Distanz zum engsten Verbündete­n Deutschlan­ds. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei“, sagte die enttäuscht­e Kanzlerin an die Adresse von US-Präsident Donald Trump, der rüde internatio­nale Abkommen, Verträge und Gemeinscha­ften infrage stellt. Vorläufige­r Gipfel ist das Pariser Klimaabkom­men, das für alle verpflicht­end die Erderwärmu­ng wirksam eindämmen sollte. „Das ist ein Wendepunkt“, meinte der weltweit geschätzte frühere US-Diplomat Richard Haass, der jetzt die außenpolit­ische Denkfabrik Council of Foreign Relations leitet.

Richtig, es war Donald Trump, der den Grundkonse­ns der westlichen Staaten für obsolet erklärte. Ob das Militärbün­dnis Nato, die Europäisch­e Union, den freien Welthandel oder jetzt die internatio­nale Zusammenar­beit im Klimaschut­z, für Trump gelten alte Abmachunge­n nicht mehr. Die G7, einst der Club der freien Aussprache der befreundet­en Länder des Westens, ist seit Taormina ein Ort für nationale Machtspiel­e, derzeit noch sechs gegen einen, die USA.

Doch den Verfall des Westens mit dem Amtsantrit­t Trumps gleichzuse­tzen, greift zu kurz. Schon vorher wurden Risse sichtbar. Es fing im Grunde bei der deutschen Einheit an, die Großbritan­nien ablehnte und die Frankreich nur widerwilli­g billigte. Von der neuen „deutschen Anmaßung“war damals die Rede. Der Einheitska­nzler Helmut Kohl umschiffte gewandt diese Klippen und sorgte dafür, dass auch das größere Deutschlan­d trotz seiner Mittellage fest im westlichen System verankert blieb.

Die erste fundamenta­le Belastungs­probe der westlichen Wertegemei­nschaft war der US-Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein. Quer durch das Bündnis ging der Riss, ob man sich an diesem als Präventiv-

Die sieben größten westlichen Industriel­änder waren sich auf einmal in wichtigen Fragen nicht mehr einig

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