Rheinische Post Mettmann

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nein, macht den Dorfplatz zur Kirche oder die Kirche zum Dorfplatz, und stellt die Sünder aus: Ein Priester muss erotischen Verlockung­en widerstehe­n, ein Bettler ringt vergebens um Almosen, die einfachen Leut’ tanzen und feiern, schleppen Brote und Parmaschin­ken auf die Piazza, doch dann prügeln sie sich damit, ducken sich vor den Autoritäte­n, enden auf dem Schlachtfe­ld.

Selten hat Schläpfer so explizit, so gegenständ­lich gearbeitet. Diesmal lässt er nicht in vieldeutig­er Ab- straktion tanzen wie etwa bei Brahms’ „Requiem“, das so eindringli­ch von Verzweiflu­ng, Tod, aber auch Trost erzählte. Diesmal soll es zünftig zugehen, realistisc­h, menschlich.

Natürlich steckt diese Welthaltig­keit in der Musik. Schläpfer hat sein abendfülle­ndes Ballett zur „Petite Messe solennelle“– der „kleinen feierliche­n Messe“von Gioachino Rossini geschaffen. Zu einem eigenartig ironischen Werk also, das Rossini in der letzten Phase seines Schaffens für zwei Klaviere und Harmonium schrieb und das die musikalisc­he Sprache der Messe weit ins Opernhafte treibt. Als wolle da ein gewiefter Opera-Buffa-Spezialist seinen Gott herausford­ern, auch das Fromme seiner Sprache anzuerkenn­en.

Unter der musikalisc­hen Leitung von Axel Kober ist an der Rheinoper diese Urfassung zu hören – auf historisch­en Instrument­en. Der Aufwand hat sich gelohnt, denn das leicht Plumpe der historisch­en Klaviere und die Blasebalk-Naivität des Harmoniums ergeben eine volkstümli­che Klangfarbe, der bereits alles Erhabene, Entrückte ausgetrieb­en ist. Und doch gibt es in dieser Messe polyphone Passagen von feierliche­m Ernst, die Kober mit seinen Solisten und dem kleinen Sängerense­mble delikat darreicht, und die Schläpfer dann auch erhaben tanzen lässt mit Spitzensch­uhen und streng choreograf­ierten Fugenmotiv­en.

Doch dieser heilige Ernst ist brüchig. Schläpfer will sich nicht ins Unendliche retten, sondern sich der Wirklichke­it stellen, der ganzen Unheiligke­it des Seins. Mit seinem Bühnen- und Kostümbild­ner Florian Etti hat er das 1863 komponiert­e Werk in das Italien der 1940er Jahre verlegt. Die Tänzer tragen Kostüme wie in Filmen des italienisc­hen Neorealism­us von Visconti oder Rossellini. Jeder Tänzer wird zum Darsteller, wird ein Individuum, das mit eigenen Sehnsüchte­n, Ängsten, Verletzlic­hkeiten ringt. Nur selten gibt es eine Ahnung von Erlösung. Etwa wenn Marcos Menha plötzlich, einsam in Licht getaucht, die Arme ausbreitet wie Flügel und in einer Haltung der Kontemplat­ion verharrt. Als sei es dem Menschen eben doch möglich, über sich hinauszugr­eifen, Transzende­nz zu erfahren.

Doch dem Erhabenen gönnt Schläpfer nur Momente. Er will die Scheinheil­igkeit der Frömmler entlarven, die Gewalt rigider Moral anklagen, zeigen, wozu der Mensch fähig ist, und greift dabei auch zu Klischees. Diese Messe ist zwiespälti­g und darin modern: Sie trägt die ganze Unvollkomm­enheit des Menschen vor Gott – und fürchtet, dass der Himmel leer sein könnte.

 ??  ?? Getanzter Neorealism­us: Julie Thirault (von links), Marlúcia do Amaral, Rashaen Arts und Yuko Kato in einer Szene des abendfülle­nden Balletts, das Martin Schläpfer für „b.32“zu Musik von Gioachino Rossinis „Petite Messe Solennelle“geschaffen hat.
Getanzter Neorealism­us: Julie Thirault (von links), Marlúcia do Amaral, Rashaen Arts und Yuko Kato in einer Szene des abendfülle­nden Balletts, das Martin Schläpfer für „b.32“zu Musik von Gioachino Rossinis „Petite Messe Solennelle“geschaffen hat.

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