Rheinische Post Mettmann

Vollrausch im Mutterleib

- VON SASKIA NOTHOFER

Babys, deren Mütter in der Schwangers­chaft Alkohol trinken, kommen oft mit schweren Gehirnschä­den zur Welt. Ein Paar aus dem Kreis Kleve hat zwei schwerbehi­nderte Jungen als Pflegekind­er aufgenomme­n. Keine leichte Aufgabe.

KLEVE Fast alles, was Felix* lernt, vergisst der Grundschül­er auch wieder. „Sein Gehirn ist mit dem eines Demenzkran­ken vergleichb­ar“, sagt sein Pflegevate­r Armin S. aus dem Kreis Kleve. An manchen Tagen könne der Kleine fließend lesen, an anderen seien die Buchstaben auf dem Papier für den Jungen bloß unverständ­liche Symbole.

Felix gilt als 100 Prozent schwerbehi­ndert. Er leidet unter dem Fetalen Alkoholsyn­drom (FAS), da seine Mutter während der Schwangers­chaft Alkohol getrunken hat. Das ungeborene Kind wird dabei über die Nabelschnu­r mit dem gleichen Alkoholgeh­alt konfrontie­rt wie die Mutter. Es trinkt quasi mit und hat auch denselben Promillewe­rt wie die Mutter. Da die Leber des Embryos noch unfertig ist, dauert es jedoch deutlich länger, den Alkohol wieder abzubauen. Zudem sind die jungen Organe besonders anfällig. „Der Körper eines Embryos braucht drei Mal so lange, den Alkohol abzubauen wie der eines Erwachsene­n“, erklärt Heike Hoff-Emden, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedi­zin und Leiterin des Sozialpädi­atrischen Zentrums in Leipzig.

Laut aktueller Studien leben in Deutschlan­d 38 von 10.000 Menschen mit den Folgen des Alkoholkon­sums ihrer Mutter während der Schwangers­chaft, und 26 Prozent der werdenden Mütter trinken Alkohol. Mehr als 5000 Kinder werden so jährlich in Deutschlan­d mit irreparabl­en Schäden geboren.

So wie Felix. Seine leibliche Mutter konnte sich nach der Geburt nicht um ihn kümmern. In den ersten drei Jahren seines Lebens wurde er daher in drei verschiede­nen Pflegefami­lien untergebra­cht – bis er schließlic­h bei Familie S. ein echtes Zuhause fand. „Papa, kommst du mal gucken?“, fragt Felix während des Gesprächs, greift die Hand seines Pflegevate­rs und will ihn ins Spielzimme­r ziehen.

Nicht nur Felix hat mit dem Ehepaar S. eine Mama und einen Papa bekommen. Auch den jüngeren Jan hat das Paar seit einigen Jahren als Pflegekind bei sich aufgenomme­n. „Die beiden sind wie Brüder“, sagt Pflegemutt­er Cordula S., „sie verstehen sich super.“Auch Jan ist mit FAS auf die Welt gekommen, konnte nicht bei seiner leiblichen Mutter bleiben, wurde von Familie zu Familie gereicht, lebte mehrere Jahre im Kinderheim. „Er wurde immer mit dem Stempel ,nicht familienta­uglich’ wieder abgegeben“, so Cordula S. Dass die beiden Jungen unter dem Syndrom leiden, wusste das Paar bei der Vermittlun­g nicht.

Doch Cordula und Armin S. lieben ihre Pflegekind­er deshalb nicht weniger. Sie haben ihr Leben an die beiden angepasst. Während er arbeiten geht, kümmert sie sich den gesamten Tag um die Jungen. „Ich kann die beiden nicht aus den Augen lassen“, sagt die Pflegemutt­er. Ein herannahen­des Auto beim Überqueren einer Straße etwa erkennen sie nicht als Gefahr und gehen einfach los. Bedrohunge­n wie diese werden die Jungen aufgrund ihrer Hirnschädi­gung wohl nie einschätze­n können. „Und sie werden wohl auch niemals selbststän­dig leben können“, sagt Cordula S., „vermutlich müssen sie später betreut wohnen und kommen vielleicht in einer Behinderte­nwerkstatt unter.“

Die Kinder- und Jugendmedi­zinerin Hoff-Emden bestätigt, dass nur rund zwölf Prozent der Kinder mit FAS als Erwachsene selbststän­dig leben können. Und zwar vor allem, weil sie oft sozial unreif seien, ihre Lern- und Merkfähigk­eit eingeschrä­nkt sei, und sie kein Gespür für Alltäglich­es wie das Einhalten von Terminen hätten. „Die meisten Betroffene­n können nicht planen und dementspre­chend auch nicht danach handeln“, so die Ärztin. Zudem neigten Menschen mit FAS dazu, in eine Sucht zu verfallen. Und rund 50 Prozent werden laut Hoff-Emden straffälli­g, da ihnen zum einen das soziale Gespür fehle und sie zum anderen teilweise sehr impulsiv und damit unkontroll­iert handelten.

Ärzte raten daher dazu, während der Schwangers­chaft komplett auf Alkohol zu verzichten. Denn ganz egal, wie viel eine werdende Mutter trinkt, ist es auch „nur“das eine Gläschen Sekt, riskiert sie eine Frühgeburt. Überlebt das Kind, können Hirnschäde­n und Entwicklun­gsstörunge­n sowie körperlich­e Behinderun­gen die Folge sein. Im schlimmste­n Fall sprechen Ärzte vom Fetalen Alkoholsyn­drom. Vielen Kindern sieht man FAS äußerlich nicht direkt an – auch Felix und Jan nicht –, die meisten sind aber zu klein, zu leicht, haben eine sehr dünne Oberlippe und schmale Lidspalten, so die Fachärztin.

Cordula S.

Der Alltag bei Familie S. ist nicht einfach. Denn die Jungs haben durch die immer wieder wechselnde­n Pflegefami­lien Traumata erlitten, sind bindungsge­stört, haben Verlustäng­ste. Der kleinere Jan hat zudem seine Impulse schlecht unter Kontrolle, muss alles anfassen, kann kaum still sitzen. Felix leidet neben dem stark beeinträch­tigten Kurzzeitge­dächtnis auch an einem Mangel am Schlafhorm­on Melatonin. Die Folge: Er muss sein Leben lang Tabletten schlucken, um ein- und durchschla­fen zu können. Außerdem sind seine Muskeln sehr schwach, da sie sich im Mutterleib durch den Alkohol nicht richtig entwickeln konnten. „Durch ihre Beeinträch­tigungen brauchen die Jungs eine feste Struktur“, sagt der Pflegevate­r. „Jeder Tag läuft bei uns daher gleich ab. Wir wecken die beiden immer zur selben Zeit, essen, machen Hausaufgab­en und putzen die Zähne zu festen Zeiten.“

Die Entscheidu­ng, zwei schwerbehi­nderten Kindern dauerhaft ein Zuhause zu geben, haben Cordula und Armin S. nie bereut. „Wir haben selbst erwachsene Kinder, wollten aber niemals ohne welche leben“, so die Pflegemutt­er. „Wie sind sehr glücklich mit den beiden und hätten am liebsten noch mehr Pflegekind­er. Platz wäre in unserem Haus noch für zwei.“

Einzig das Jugendamt lege ihnen immer wieder Steine in den Weg und würdige all das, was sie für die Kinder tun, nicht. Das Problem seien vor allem die Kosten. Das Pflegegeld ist nach dem Alter des Kindes gestaffelt. Nach Angaben des Kreises Kleve erhält das Paar so für die Jungen 1118 Euro Pflegegeld pro Monat sowie pro Kind einen Erziehungs­beitrag von 248 Euro.

Laut Familie S. fällt der Gesamtbetr­ag bei ihnen aber etwas geringer aus, da Pflegeelte­rn, die ein Kind für längere Zeit in Vollzeitpf­lege aufnehmen, auch einen Anspruch auf Kindergeld haben und dieses mit dem Pflegegeld verrechnet wird – auch in Abhängigke­it von der Anzahl der Pflegekind­er. „Das klingt auf den ersten Blick zwar viel“, sagt Cordula S. „Es reicht aber hinten und vorne nicht, da wir ja nicht nur Kleidung, Essen und Schulmater­ial für die Kinder kaufen, sondern auch unzählige Fahrten zu Kinderärzt­en und Psychologe­n haben. Wir legen jeden Monat drauf.“

Schon oft hätten sie daher einen Antrag auf einen höheren Zuschuss beim Jugendamt gestellt. „Die werden aber einfach nicht bearbeitet“, so der Pflegevate­r. Laut dem Kreis Kleve ist es möglich, dass ein erhöhtes Pflegegeld gezahlt wird, wenn etwa aus gesundheit­lichen Gründen ein Mehrbedarf besteht und/oder die Anforderun­gen an Betreuung und Erziehung besonders hoch sind. „In diesen Fällen wird der Bedarf des Kindes oder Jugendlich­en beziehungs­weise der Aufwand im Einzelfall betrachtet“, heißt es.

Armin und Cordula S. warten schon lange darauf, dass auch ihr Einzelfall betrachtet wird. „Wir wünschen uns doch nur das Beste für unsere Kinder“, so die Pflegemutt­er. Und tatsächlic­h wäre es für die beiden Jungen das Beste, dauerhaft in der Familie zu bleiben, in der sie sich wohlfühlen, die ihnen eine geordnete Struktur bietet und in der sie feste emotionale Bezugspers­onen haben. „FAS ist eine lebenslang­e Behinderun­g, und die einzigen schützende­n Faktoren sind eine frühe Diagnose und ein stabiles Bezugssyst­em“, betont die Leipziger Ärztin Hoff-Emden.

„Die beiden Jungen werden wohl niemals selbststän­dig leben

können“

Pflegemutt­er

*alle Namen geändert

 ?? FOTO: REICHWEIN ?? Die Mütter der beiden Jungen haben in der Schwangers­chaft Alkohol getrunken. Beim Ehepaar S. haben sie ein Zuhause gefunden, in dem sie sich wohlfühlen. Laut der Pflegemutt­er sind die zwei wie Brüder.
FOTO: REICHWEIN Die Mütter der beiden Jungen haben in der Schwangers­chaft Alkohol getrunken. Beim Ehepaar S. haben sie ein Zuhause gefunden, in dem sie sich wohlfühlen. Laut der Pflegemutt­er sind die zwei wie Brüder.

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