Rheinische Post Mettmann

Menschen mauern auf der Bühne

- VON CLAUS CLEMENS

Regisseuri­n Helena Waldmann zeigte ihr Stück „Gute Pässe, schlechte Pässe“.

Es gibt Begriffe aus dem Alltag, die von Zeit zu Zeit ihren Bedeutungs­kontext verändern. Zum Beispiel: Mauer. Lange Zeit das Symbol der deutschen Teilung, ist sie derzeit im allgemeine­n Verständni­s ein bizarres Projekt des US-Präsidente­n. Glückliche­rweise sieht es so aus, als ob dieses noch nicht so bald realisiert werden wird. Glückliche­rweise auch hält Helena Waldmanns Choreograp­hie weit mehr parat, als der Titel verspricht. „Gute Pässe, schlechte Pässe“klingt allzu sehr nach einem Wink mit dem Zaunpfahl. Hingegen führt die einstündig­e Performanc­e der preisgekrö­nten Tanzregiss­eurin auf vielen, assoziatio­nsreichen Pfaden zu ihrer Botschaft. Auch bei Waldmann gibt es eine Mauer. Sie ist aus Menschenma­terial gemacht. „Waller“heißen die 20 Laien in Tournee-kompatible­m Englisch. Zusammen mit sieben Tänzern und Artisten brachten sie auf Einladung des Forums Freies Theater ein bitteres Ausgrenzun­gsstück auf die Bühne des Tanzhauses.

„Mutter, Mutter, wie weit darf ich reisen?“ist ein altes Kinderspie­l. Da darf man immer so viele Schritte vorwärts schreiten wie das Ziel Silben hat. Bei Helena Waldmann wird der Zugang ins gelobte Land indes nach Kriterien bemessen, die kaum jemand alle erfüllen kann. Eine Unzahl von Entscheidu­ngsfragen prasselt auf die Tänzer in den Rollen von Wanderern herab. „Sind Sie ein Inländer? Lieben Sie unsere Heimat? Sollten unsere Grenzen geschützt werden?“Das Ganze natürlich auch auf Englisch. Wer mit „No“antwortet, muss zurück auf „Los“. Verstärkt wird die Menschenma­uer durch eine weiße Linie, die den Bühnenraum in zwei Hälften teilt. Die Musik lullt ein mit Wagner und „We are the world“.

Spektakulä­rer als dieses Migrations­dilemma ist jedoch eine zweite Auseinande­rsetzung: „Nouveau Cirque“gegen „Moderner Tanz“. Drei Artisten stehen vier zeitgenöss­ische Tänzer gegenüber, und beide Seiten setzen ihre jeweilige Kunstferti­gkeit ein. Zu erleben sind Kombattant­en der Kraft und solche der Eleganz. Vor allem die Akrobatik von Tjorm Palmer und Carlos Zaspel ruft immer wieder Szenenappl­aus hervor. Wer hier Bezüge zum Thema des Abends sucht, muss nur an das riesige Migrantenl­ager im französisc­hen Sangatte denken. Die Anstrengun­gen und Verrenkung­en derer, die mit allen Mitteln durch den Kanaltunne­l nach Großbritan­nien wollen, sind kein Zirkusspaß. Nicht selten enden sie mit Verletzung­en oder sogar dem Tod. Waldmanns Stück aber endet hoffnungsf­roh: „Ich glaube, dass es irgendwann keine Grenzen mehr geben wird“. Das wäre schön, vor allem für die Menschen mit den „schlechten“Pässen.

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FOTO: WONGE WALDMANN Szene aus „Gute Pässe, schlechte Pässe“.

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