Ein deutscher Europäer
Der sechste Bundeskanzler Helmut Kohl war der einzige deutsche Politiker seiner Generation, der Weltpolitik gemacht hat. Sein politisches Lebensthema war das vereinte Europa. Bei der Einführung des Euro ignorierte er jedoch Warnungen wichtiger Ökonomen.
„Helmut Kohl war ein politischer Riese und hat neben Konrad Adenauer die tiefsten Spuren in der Geschichte der Bundesrepublik und Europas hinterlassen.“– Hans-Peter Schwarz, Historiker, Autor der großen Kohl-Biografie von 2012
Als der 80. Geburtstag von Helmut Kohl im Mai 2010 in dessen Heimatstadt Ludwigshafen nachgefeiert wurde, bilanzierte der Geehrte sein Leben dankbar und schlicht: Es habe Sinn gemacht, und der liebe Gott habe es in der Summe gut mit ihm gemeint. Große Worte formulierten andere, beispielsweise Bundespräsident a.D. Roman Herzog. Er rückte Helmut Kohls Wirken ins Licht, ohne den Schattenwurf zu verschweigen.
Das, so der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Bundespräsident, habe den Menschen und Staatsmann ausgemacht: Verlässlichkeit, eine schier unmenschlich erscheinende Geduld sowie die Fähigkeit, den richtigen Moment des Handelns abwarten zu können. Dann folgte das abwägende Fazit über den Mann, der sechzehn Jahre lang Kanzler (1982–1998) und 25
Angela Merkel Jahre lang (1973–1998) CDU-Bundesvorsitzender gewesen war: „Er hat das Parteiengesetz nicht erfüllt, aber er hat den Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes erfüllt.“
Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hielt zu Kohls 85. Geburtstag am 3. April 2015 größtes Lob parat: Er habe das politische Kunststück einer Wiedervereinigung im Einklang mit allen Nachbarn und den ehemaligen Alliierten gegen Nazi-Deutschland vollbracht. Gelungen sei Kohl das, weil er wie kein Zweiter über Jahre hinweg Vertrauen aufgebaut habe, von Washington über Paris, London und Brüssel bis nach Moskau. Dann sprach die sonst nicht zum Überschwang neigende Merkel einen Satz wie in Stein gemeißelt: „Dieser Kanzler des Vertrauens war für uns Deutsche ein Segen.“
Auch diejenigen, die mit Helmut Kohl nicht ihren Frieden machen wollten, weil sie dessen selbstgerechter Ton im Memoirenwerk, der ungerührt gestandene Gesetzesverstoß in der Spendenaffäre oder die verbalen Rüpeleien aus dem Oggersheimer Keller störten, empfanden Mitleid beim Anblick des zuletzt gebrechlichen Bundeskanzlers a.D. Die zuletzt wenigen öffentlichen Auftritte, die sich der unter den Folgen einer sturzbedingten Hirnverletzung sicht- und hörbar Leidende zumutete, weckten Erinnerungen an den späten Papst Johannes Paul II. Auch dessen krankheitsbedingte Sprachlosigkeit in der letzten Lebensphase rührte selbst giftigste Kritiker.
Frappierend, wie sich die Ahnung historischer Größe auch beim alten Helmut Kohl umso nachdrücklicher einstellte, je hilfsbedürftiger der einst so vitale Kämpfer wirkte. Bis zum Schluss blieb die Erfahrung auch bei ihm: Die wirklich Großen, und mögen sie auch schweigen, füllen den Raum allein durch ihre Präsenz. Man konnte das erleben, als der Alte im Rollstuhl im Juni 2013 zum Abschied des langjährigen politischen Weggefährten Michael „Michel“Glos von der CSU diesem zur Ehre in Berlin aufkreuzte und sofort alle wieder in seinen Bann zog.
Kohls merkwürdig starrer, hilfesuchend schweifender Blick irritierte Beobachter; ebenso die starke Behinderung des Sprachflusses. Die massive Statur war, reduziert zwar, in den letzten Lebensjahren noch gegenwärtig. Der Rollstuhl aber, der ihm Halt gab, und die stockende Artikulation signalisierten auf brutale und zugleich feierliche Weise das nahe Lebensende.
Der Verstorbene war ein Deutscher und Europäer. Bei ihm gehörte immer beides zusammen. Er sprach von den „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Helmut Kohl (Geburtsjahrgang 1930) war der einzige Deutsche seiner Generation, der 1989/90 Weltgeschichte geschrieben hat. Der Mann aus Ludwigshafen-Oggersheim war fehlerbehaftet in seinem Hang, Menschen und Umgebung zu dominieren, ja zu erdrücken. Das spürten im Priva- ten auch seine Söhne Walter und Peter aus erster Ehe mit seiner Tanzstunden-Liebe Hannelore, mit der er 41 Jahre verheiratet war.
Ein Zartbesaiteter wie Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, litt in der Wendezeit beinahe körperlich unter Kohls kreatürlichem Drang, Unterordnung zu erwarten. Wo immer er zugegen war, wollte er Chef sein. Seine ältere Schwester Hildegard erzählte davon auch mit Blick auf die Schülerjahre ihres kleinen Bruders Gernegroß. Erst seiner zweiten Ehefrau Maike Richter-Kohl, der letzten Liebe seines Lebens, ist es auf stille, entschiedene, den körperlich geschwächten Gatten umsorgende Art gelungen, dessen Aura des scheinbar alles und jeden Beherrschenden zu verändern. Sobald der wiederverheiratete Witwer über „Maike“sprach, legte sich Weichheit auf Stimme und Gesichtszüge.
1999/2000 – ein Jahrzehnt nach seinem größten Triumph als Staatsmann – fiel ein Schatten auf Kohls gewaltiges politisches Leben, ein Leben, das auch die sonst nicht lobhudelnden Biografen Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich als das eines Ausnahmepolitikers bilanzieren, der wie kaum ein Zweiter das Land geprägt habe. Seit der Kanzler a.D. und Vierteljahrhundert-Boss seiner Partei einräumen musste, für die CDU Spendengeld in Höhe von gut zwei Millionen DMark angenommen zu haben, sich aber mit Verweis auf ein den Spendern gegebenes Ehrenwort gesetz- widrig weigerte, die Namen der Spender zu nennen, schwankte Kohls Charakterbild in der Geschichte. Die dunkle Materie hat ihn den CDU-Ehrenvorsitz, die Zuneigung zahlreicher Sympathisanten, eine Zeit lang ganz allgemein ein Stück Ehre gekostet. Im April 2000, zu seinem Siebzigsten, verdrückte sich ein tief gekränkter, um seinen Rang in der Geschichte bangender Staatsmann mit einem klitzekleinen Kreis Getreuer und seiner psychisch-körperlich leidenden ersten Ehefrau Hannelore ins Elsass. Der strauchelnde Riese versteckte sich vor den aus seiner Sicht Gift-Zwergen daheim. Kohl mag sich in seiner hohen Selbsteinschätzung wie weiland der große Winston Churchill gedacht haben: „Wir sind alle Würmer, nur ich bin ein Glühwurm.“
Alte Feindschaften im eigenen christdemokratischen Lager, das Kohl mit seinem pfälzisch gefärbten Idiom als „Famillje“verstand, brachen wieder auf. Der Löwe wankte, und es wimmelte plötzlich vor mutig gewordenen kleineren Tieren. Sie zupften an der Mähne desjenigen, der sie einst gefördert hatte, nicht selten später unsentimental zu politischem Kleinholz verarbeitete, weil sie sich ihm überlegen fühlten und ihn das spüren ließen. Allerlei wendige Partei-„Freunde“tendierten um die Jahrtausendwende zum Wechseln der Straßenseite („Grüß mich nicht Unter den Linden“), wenn sie den Spenden-Sünder kommen sahen. Das Ehepaar Kohl hatte eine hohe Hypothek auf sein Oggersheimer Haus aufgenommen und ein paar Millionen D-Mark zusätzlich bei wohlhabenden Gönnern, selbst solchen mit sozialdemokratischem Parteibuch, gesammelt, um die fällige Millionen-DMark-Strafe zulasten der CDU auszugleichen.
Das linke politische Spektrum ließ sich beim Versuch, den großen Alten vom Sockel zu stoßen, ungern übertreffen. Für diese Gegner war Helmut Kohl ein Fortsetzungstäter des Rechtsbruchs. Attacken der Linken haben Kohl jedoch nie bis ins Mark getroffen, von ihnen erwartete er keine Dankbarkeit für politische Lebensleistung. Dass ein Mensch überhaupt Sozialdemokrat, in Kohls Sprachgebrauch „ein Soz“, sein kann, vermochte er, ähnlich wie sein großes Vorbild Konrad Adenauer, nie recht zu begreifen. Der lebenslange parteipolitische Raufbold sortierte Sozialdemokraten, so sie ihm nicht menschlich sympathisch waren wie der späte Willy Brandt, ruppig-fröhlich unter jene Leute, denen „politisch aufs Haupt zu schlagen ist“. Sozis, die sich bürgerlich gaben, unterstellte Kohl Tarnung: „Soz bleibt Soz, und wenn er mit Zylinder ins Bett geht.“Das war eines der schlichteren Fundstücke aus der unteren Sprüche-Schublade des wohl stärksten Provinzlers, den die deutsche Politik je hervorgebracht hat.
Nicht beschädigt hat die Spendengeld-Fehlleistung den bleibenden Ruhm des Verstorbenen als Kanzler der Einheit. In weiten Teilen
RP-KARIKATUR: NIK EBERT des Volkes, vor allem des jüngeren, nahm der Mann längst den entrückten Status desjenigen ein, von dessen großer Zeit man gehört hat, ohne diese noch detailliert erzählen zu können. Kohl ist zu Lebzeiten schon in die Geschichte eingegangen: Kanzler der Einheit, Ehrenbürger Europas, eine alte Eiche am Rande eines nachwachsenden politischen Mischwaldes. So ähnlich wie Kohl muss es nach dem Ende ihrer aktiven Jahre auch dem Reichsgründer Otto von Bismarck und dem bundesrepublikanischen Grundsteinleger Konrad Adenauer ergangen sein. Jedoch, „der Bismarck in Strickjacke“(Publizist Herbert Kremp über Helmut Kohl) hat keinen Sachsenwald wie einst der Ei- serne Kanzler geschenkt bekommen zum Dank für hohe Staatskunst in jenen Wundermonaten zwischen dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. Den Vereinigungsprozess hat Kohl fast im Alleingang angestoßen, so urteilte Historiker Schwarz, der am Mittwoch, nur zwei Tage vor Helmut Kohl, im Alter von 83 Jahren gestorben ist. „Der Pfälzer Bubb“, den sie daheim in Ludwigshafen „Helle“nannten, trug sich ins Buch der Geschichte ein. Dem Eintrag ging kein Blutvergießen voraus. Bei Bismarck war das 1870/71 und davor ganz anders: Der Preuße hatte die Nation mit Blut und Eisen geschmiedet. Was sich, wie wir wissen, rächen sollte.
Der Lorbeer „Architekt der Europäischen Union“umkränzt Kohl nicht mehr in voller Pracht, seit die Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung zutage traten. Biograf Schwarz schrieb 2012: Ja, Kohl habe die Konstruktionsmängel des Euro übersehen und Warnungen von Ökonomen beiseitegeschoben. Schwarz wandte sich zwar gegen das Wort „Schuld“, sprach aber unumwunden von Mitverantwortung Kohls, dieses im Innersten idealistischen Europäers.
Kohl war ein Genie im Strippenziehen, heute würde man ihn einen grandiosen Netzwerker nennen. Dem Ausland galt der Kanzler (Spitzname bei Abwesenheit des Meisters: „Der Dicke“) als fleischgewordene deutsche Entwarnung, was sich bei der mit Hilfe des Außenministers Hans-Dietrich Genscher glänzend gelungenen diplomatischen Absicherung des Prozesses zur Einheit ausgezahlt hat. Kreml-Chef Michail Gorbatschow, ohne den Kohl den Schlüssel zur Einheit nicht in die Hand bekommen hätte, war einer der Staatslenker der Wendezeit, die der schlaue Pfälzer für sich zu gewinnen verstand. Der Verstorbene war eine politische Naturbegabung und für seine Freunde ein sorgender Kamerad. Doch wehe dem, den er der Illoyalität verdächtigte, gar überführte. Die „Ochsennatur“(Selbstbeschreibung) besaß ein Elefantengedächtnis. Heiner Geißler, den Kohl 1989 als CDU-Generalsekretär entmachtet hatte, meinte so gehässig wie anerkennend, Kohl sei sicherlich nicht der Gescheiteste von allen gewesen, aber er habe alle anderen übertroffen in seinem Machtwillen.
Kohl galt weder als sonderlich detailbesessen noch gar -interessiert. Aber er war ein Stratege im Ausmessen und Gestalten großer Lagen, siehe auch sein eigentliches Lebensthema als Politiker und Staatsmann: das Projekt Europa, dessen Gelingen für ihn eine Frage von Krieg und Frieden war. Ein anderer
„Dieser Kanzler des Vertrauens war für uns Deutsche ein Segen“
Bundeskanzlerin
Man wird ihm keine Bismarck-Türmebauen– doch Straßen, Plätze werden seinen Namen
tragen
wichtiger Senior der deutschen Politik, Kanzler a.D. Helmut Schmidt, lobte uneingeschränkt die außenpolitische Trittsicherheit, ja Führungskunst seines Amtsnachfolgers, insbesondere im welthistorischen Moment 1989/90.
Scherzhaft heißt es, kein Verstorbener sei so schlecht wie sein Ruf, doch nicht so großartig, wie die Nachrufe auf ihn klängen. Dies gilt für große Tote dann doch: Das Auge der Geschichte blinzelt nicht, es muss mit weiten Pupillen schauen, gerade auch auf Kohl, einen Menschen in seinem Widerspruch. Er, der sich um das Vaterland mehr verdient gemacht hat als um Versöhnung mit seinen Söhnen und alten Gegnern, verharrte zu lange im Amt, weil er sich nach 1990 anscheinend für unersetzlich hielt und auch deshalb 1998 von einer Mehrheit im Volk weggewählt wurde. Der Blick streift den stürmenden und drängenden, landespolitisch modernisierenden Mainzer Ministerpräsidenten (1969–1976) sowie den oft sultanhaft auftrumpfenden CDUVorsitzenden. Am Ende der Amtszeit traute er wohl niemandem mehr zu, ihn politisch zu beerben, nicht einmal seinem „Kronprinzen“Wolfgang Schäuble.
Kohl erfüllt das klassische Kriterium für historische Größe, weil ohne sein Wirken der Prozess zur Einheit anders verlaufen, wenn nicht gestoppt worden wäre. Der DDR-Widerständler Arnold Vaatz formulierte: Wie sähe die Welt heute aus, wenn es in der Wendezeit nach Kohls schärfsten Kritikern gegangen wäre? Hätte Kohl die Einheit verpatzt, säße er, Vaatz, jetzt vielleicht in Bautzen, dem SED-Knast für politische Häftlinge. Die Ostberliner Physikerin Angela Merkel hätte ihre Schritte auf der Karriereleiter nicht ohne den Sprossen-Einzieher Kohl tun können. In der Spendenaffäre hat sich CDU-Generalsekretärin Merkel dennoch von ihrem Gönner losgesagt. Kohl empfand das als treulos, insgeheim aber wohl auch als Indiz, dass da jemand wie er aus hartem, eben aus Kanzler-Holz geschnitzt sei.
Zum Schluss dies: Man wird ihm keine Bismarck-Türme bauen. Die Zeiten sind nicht so. Doch Straßen, Plätze werden seinen Namen tragen, und Helmut Kohl wird aus der Masse ragen.