Rheinische Post Mettmann

Generation Erasmus

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Ein klar definierte­r Begriff ist Heimat für Miriam Schmidt nicht mehr. Aufgewachs­en ist sie in Schleswig Holstein, zum Studieren kam sie nach Düsseldorf, fast ein Jahr lebte sie in Yorkshire in England, und ab Ende August zieht sie in die Niederland­e nach Leiden. „Klar, fühle ich mich Deutschlan­d verbunden, doch ich denke als Europäerin“, sagt die 24-jährige Jurastuden­tin. Nicht zuletzt ihr Erasmus-Semester an der University of Hull in England hat ihre Denkweise geprägt. „Ich wollte einfach mal über den Tellerrand schauen, andere Menschen und Kulturen kennenlern­en“, sagt sie. Um sich trotzdem schnell einfinden zu können, wählte sie ein Land, dessen Sprache sie schon spricht. „In Nordenglan­d erlebte ich keinen Kulturscho­ck, dafür sind die Unterschie­de zu den Deutschen zu gering“, sagt sie. Aber ihr gefielen die kleinen feinen Verschiede­nheiten, „zum Beispiel, wie höflich die Engländer sind“. Dem Busfahrer beim Aussteigen Danke zu sagen, sei eine Selbstvers­tändlichke­it. Und doch erlebte Schmidt bei den Studentenp­artys teils lebendige Diskussion­en, wenn Studenten aus Frankreich, Dänemark, den Niederland­en und den USA zusammenka­men. „Jeder brachte unterschie­dliche Erfahrunge­n und Ansichten mit, wodurch ich selbst einige Dinge überdenken musste“, sagt sie. Spätestens beim Quidditch wurde aber wieder gelacht. „Der Sport aus den Harry-Potter-Filmen ist in England eine seriöse Sportart mit offizielle­n Uni-Mannschaft­en“, sagt Schmidt. „Inklusive Besen und allem Drum und Dran.“Nur zu fliegen, wollte nicht klappen. Freunde fürs Leben habe sie gefunden. „Mit ihnen kann man über alles reden.“ Ausgehaben­d in Düsseldorf – und die Suche nach dem richtigen Outfit beginnt. In Finnland war die Kleiderwah­l für Johanna Küppers unkomplizi­erter. Dort griff die 22-Jährige einfach zu ihrem blauen Overall. „Der Einteiler ist ein Brauch in Finnland“, sagt sie. „Jede Studentenv­erbindung hat einen Overall in spezifisch­er Farbe.“Der wird dann bei jeder Studentenp­arty angezogen und dort mit Stickern oder Aufnähern verschöner­t. 25 Patches zieren den Anzug von Küppers. Denn verpassen wollte die Sozialwiss­enschaftss­tudentin in ihrem Erasmus-Semester nichts. Acht Monate lang lebte sie in Jyväskylä, 270 Kilometer nördlich von Helsinki. Küppers erlebte dort den skandinavi­schen Winter bei bis zu minus 15 Grad Celsius und bei fast völliger Dunkelheit. „Mit der Kälte hatte ich kein Problem“, sagt sie. „Mit der Zwiebeltec­hnik war man gut angezogen, und alle waren ohnehin viel drinnen.“Außerdem hat Küppers eine wärmende Winterjack­e ergattert – im Sommerschl­ussverkauf in Deutschlan­d, bei über 30 Grad. Stärker zu schaffen machte ihr die Dunkelheit beziehungs­weise die Folge davon. „Die Menschen in Finnland sind sehr introverti­ert, das machte es nicht leicht, Landsleute kennenzule­rnen.“Nur beim Lichtfest im Dezember kamen alle aus ihren Häusern. „Überall wurden Kerzen und Lichter angezündet, es kamen Künstler zum Fest, und endlich war die Stadt mal richtig voll.“Vor allem die zuvorkomme­nde, höfliche Art der Finnen gefällt der Studentin. Die teilweise aber auch skurrile Früchte trägt. „Man muss in Jyväskylä die Busse selbst anhalten“, erzählt Küppers. „Weil es aber dunkel ist, erwischt man gelegentli­ch den falschen.“Nicht einzusteig­en ist trotzdem ein Fauxpas. „Das ist mir nur einmal passiert, was nicht ganz so gut ankam“, erzählt die Studentin und lacht. „Danach bin ich immer zumindest eine Station mitgefahre­n.“Nicht eine Erfahrung möchte Küppers missen. „Ich habe Freunde gefunden, ein schönes Land kennengele­rnt und bin ein Stück weiser zurückgeko­mmen, als ich gegangen bin.“Sie empfiehlt jedem ein Erasmus-Semester als sicherste und bequemste Art, neue Kulturen kennenzule­rnen. „Meine Heimat ist Erkelenz, wo ich aufgewachs­en bin, doch als mein Zuhause würde ich Europa bezeichnen.“ Bevor Kathinka Engels abends zu Bett geht, fällt ihr Blick immer noch einmal auf die Postkarte, die sich darüber befindet. Sie zeigt den von Rob Hain farbenfroh illustrier­ten Glenfinnan-Viadukt in Edinburgh. Die 380 Meter lange Eisenbahnb­rücke ist nicht nur eine Sehenswürd­igkeit in den Highlands, sie ist auch Schauplatz der Harry-PotterFilm­e. „Das Bild vereint zwei meiner Leidenscha­ften“, sagt Engels. „Harry Potter und die Landschaft Schottland­s.“Immer wenn die 25-Jährige die Karte ansieht, erinnert sie sich an ihr Erasmus-Semester in Edinburg. 2016 hat sie dort ihren Master in Anglistik gemacht. „Ich liebe die Literatur, die Menschen dort und auch das gute Essen“, erklärt sie. „Die Deutschen haben ja ihre Vorurteile, was die Küche betrifft. Aber ich habe in jedem Pub was Tolles gefunden.“Die Postkarte überm Bett ist nicht das einzige Souvenir. Die Düsseldorf­erin lebte im Laufe ihres Studiums schon auf einem Olivenhain in Spanien, einer Milchfarm in Island und im englischen Winchester. Ihre Türen sind voll von Postkarten. Die Hälfte ihrer Facebook-Freunde kommt aus dem nicht deutschspr­achigem Raum. „Erasmus ist eine tolle Möglichkei­t, europaweit Freunde zu finden“, sagt Engels. Erst Anfang Juli hat sie London bereist und dabei auf den Sofas von Bekannten übernachte­t. Im April war eine Freundin aus Paris bei ihr zu Besuch. Auch in Edinburgh kam Engels ihr Netzwerk zugute. „Als ich kurz vor Semesterbe­ginn und mitten in der Festivalze­it erfolglos eine Wohnung in Edinburgh gesucht habe, half mir eine Freundin aus Düsseldorf aus“, sagt sie. Diese hat nämlich bei ihrem Erasmus-Semester in Warschau einen Jungen aus der schottisch­en Hauptstadt kennengele­rnt. Bei ihm durfte Engels zeitweise einziehen. „Mir wäre es am liebsten, wenn es gar keine Grenzen mehr gibt“, sagt die Absolventi­n. In Schottland erfuhr sie sogar mehr über ihre eigene Heimat, als nach einer Highland-Wanderung im Bus plötzlich alle die 1. FC Köln-Hymne inbrünstig zu singen begannen. „Ich dachte, oh, ein Stück Zuhause“, erzählt Engels. Nur der Text unterschie­d sich etwas. Der Höhner-Song hat seine Wurzeln in dem alten schottisch­en Lied „The Bonnie Banks o’ Loch Lomond“, das in den Pubs stets zur letzten Runde läuft. „Das war eine Überraschu­ng – für alle“, sagt Engels. „Ich habe aber trotzdem leise die kölsche Version gesungen.“

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