Rheinische Post Mettmann

„Die Justiz wartet nicht auf neue Aufgaben“

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Die Präsidenti­n des Bundesgeri­chtshofs warnt vor einer Überlastun­g der Gerichte und vor Zweifeln am Rechtsstaa­t.

KARLSRUHE Den Bundesgeri­chtshof am Rande der Innenstadt könnte man übersehen, so unscheinba­r liegt er da. Hinter einem immensen Springbrun­nen liegt das Palais, der älteste Teil des Gerichts. Dort empfängt die Präsidenti­n mit einigen Akten in der Hand. Frau Limperg, ist der Rechtsstaa­t ein Auslaufmod­ell? LIMPERG Nein, ganz im Gegenteil. Uns wird gerade wieder intensiv bewusst, was wir ohne den Rechtsstaa­t wären: nämlich verloren. Die Entwicklun­gen in unserem Nachbarlan­d Polen, aber etwa auch in der Türkei zeigen uns, dass wir ohne den Rechtsstaa­t keine verlässlic­he Grundlage haben. Unser gesamtes System des demokratis­chen Rechtsstaa­ts, der Gewaltente­ilung beruht auf der Herrschaft des Rechts. Und sicherlich gibt es auch in den USA manche Äußerungen, die nachdenkli­ch machen. Beunruhige­n Sie die Entwicklun­gen in diesen Ländern? LIMPERG Die USA sind ein Rechtsstaa­t. Auch Polen ist ein verfasster Rechtsstaa­t, aber wir sehen hier bedenklich­e Entwicklun­gen. Aus unterschie­dlichen Gründen in sehr verschiede­nen politische­n Situatione­n werden Säulen des Rechtsstaa­ts infrage gestellt. Es ist bedenklich, wenn Verfassung­sschutzsys­teme und die unabhängig­e Justiz als solche angezweife­lt werden. Das sind sehr alarmieren­de Zeichen. Leben wir in Deutschlan­d auf einer Insel der rechtsstaa­tlichen Glückselig­keit? LIMPERG Ich denke, dass wir in Deutschlan­d eine ausgeprägt­e und im Grunde unbestritt­ene rechtsstaa­tliche Kultur haben. Nicht nur die gesetzlich­en Grundlagen, sondern auch die Lebenswirk­lichkeit werden durch rechtsstaa­tliche Grundsätze ganz maßgeblich geprägt. Wir werden für unseren Rechtsstaa­t weltweit bewundert. Global betrachtet ist das also schon eine ziemliche Insel der Seligen. Es gibt in der Bevölkerun­g ein diffuses Gefühl des Kontrollve­rlustes. Hat der Staat die Lage noch im Griff? LIMPERG Davon gehe ich aus. Dieses Gefühl der Verunsiche­rung hat sicher viel mit der weltweiten Bedrohungs­situation und der Angst vor Terror zu tun. Objektiv betrachtet besteht aber kein Anlass, an der Handlungsf­ähigkeit des deutschen Staates zu zweifeln. In sozialen Netzwerken liest man häufig: „Gefährder, Kinderschä­nder und Sextäter laufen frei herum, aber wenn ich zu schnell fahre, greift der Staat voll durch.“Was entgegnen Sie darauf? LIMPERG Der Rechtsstaa­t hat sehr verschiede­ne Aufgaben. Er hat die Aufgabe, im Kleinen für Ordnung zu sorgen, und damit auch für das wichtige Gefühl einer gleichmäßi­gen Gerechtigk­eit. Ebenso muss er im Großen Handlungsf­ähigkeit beweisen. Und das tut er auch. Die Kapazitäte­n, die man in der Verfolgung von Ordnungswi­drigkeiten bindet, kann man nicht einfach in der Verfolgung von Straftaten einsetzen. Das sind Aufgaben, die von ganz unterschie­dlichen Stellen bewältigt werden und nicht gewisserma­ßen gegeneinan­der aufgerechn­et werden können. Man kann nicht sagen: Lass die Raser rasen und dafür fassen wir die Terroriste­n. Da verknüpft man Dinge, die nichts miteinande­r zu tun haben. Auch über Hasskommen­tare könnten bald Gerichte entscheide­n. Grundsätzl­ich daher: Sind die deutschen Gerichte gut aufgestell­t? LIMPERG Der Deutsche Richterbun­d beklagt seit vielen Jahren eine unzureiche­nde Personalau­sstattung der Justiz. Es fehlen nach wie vor bundesweit sehr viele Richter- und Staatsanwa­ltsstellen. Deswegen glaube ich nicht, dass die Justiz schon so ausgestatt­et ist, dass sie auf neue Aufgaben wartet. Wir haben in manchen Bundesländ­ern starke Altersabgä­nge an den Gerichten und nicht ausreichen­d Nachwuchs zur Verfügung. Die Zahl der Rechtsrefe­rendare, aber auch die Zahl der Volljurist­en, also der Juristen mit zwei Staatsexam­ina, geht zurück. Auch sieht sich die Justiz einiger Konkurrenz gegenüber. Um da mithalten zu können, gibt es sicherlich einiges zu tun. Etwa, wenn man an die Besoldungs­struktur denkt. Ist der Beruf zu unattrakti­v geworden? Internatio­nale Kanzleien winken mit sehr hohen Gehältern. LIMPERG In finanziell­er Hinsicht hat der Richterber­uf noch nie mit der Tätigkeit in einer großen Anwaltskan­zlei mithalten können. Es ist allerdings immer die Frage, mit was oder wem man sich vergleicht. Aber es ist sicher so, dass im Gesamtgefü­ge der Vergütunge­n das Gehalt der Richter nicht zu hoch ist. Nachwuchsj­uristen machen sich Gedanken: Ist das ein Bereich, der dauerhaft attraktiv ist? Viele schätzen noch immer die Unabhängig­keit des Richters, und dass sie sich im Laufe eines Berufslebe­ns stark entwickeln können: verschiede­ne Instanzen, verschiede­ne Fachbereic­he. Das ist alles sehr reizvoll. Man hat das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, nämlich Rechtsfrie­den zu schaffen. Viele Richter sind sehr gerne nicht nur als Letztentsc­heider unterwegs, son- LIMPERG Ich würde ihm sagen: Richter zu sein, ist immer toll. Es ist einer der schönsten Berufe, den man ausüben kann. Man ist mit der ganzen Fülle des Lebens befasst, manchmal auch konfrontie­rt. Man darf Streit schlichten, muss und kann dann aber auch entscheide­n, und man kann zur Entwicklun­g, zur Stabilisie­rung der Gesellscha­ft beitragen. Und all das in einer großen Unabhängig­keit. Das ist doch schwer zu toppen. Ein Facebook-Konto kann man nicht vererben, hat ein Gericht kürzlich entschiede­n. Braucht der rechtliche Werkzeugka­sten ein Update? LIMPERG Das muss man sich in der Tat immer wieder fragen. Die Richter sollen und können die Gesetzesla­ge nicht immer an neue Konstellat­ionen anpassen. Sicherlich kommen wir in manchen Bereichen schon an Grenzen. Etwa der Vertragssc­hluss im Internet spielt sich nicht mehr so ab, wie sich der Gesetzgebe­r des Bürgerlich­en Gesetzbuch­es das vor fast 150 Jahren vorgestell­t hat. Und an digitalen Nachlass konnte er ja auch nicht denken. In erster Linie ist es Aufgabe des Gesetzgebe­rs, Antworten auf Fragen zu finden, die sich aufgrund des technische­n Fortschrit­ts neu stellen. Drückt sich der Gesetzgebe­r davor? LIMPERG Es ist oft sehr schwer, für eine denkbare Vielzahl von Fällen eine allgemeing­ültige Regelung zu finden. Das ist im demokratis­chen Diskurs keine leichte, sollte aber eine lösbare Aufgabe sein. Ich habe schon den Eindruck, dass sich der Gesetzgebe­r ganz überwiegen­d den Problemen stellt. HENNING RASCHE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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