Rheinische Post Mettmann

89-Jährige wurde als Letzte evakuiert

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER UND MARTINA STÖCKER

Die Stadt Wuppertal hat gestern Nachmittag ein Hochhaus evakuieren lassen, weil in der Fassade brennbares Material verbaut ist. 71 Bewohner mussten ihr Zuhause verlassen und hatten 20 Minuten, um das Nötigste einzupacke­n.

WUPPERTAL Das Hochhaus im Stadtteil Wuppertal Langerfeld ist mit rot-weißem Flatterban­d abgesperrt, Anton und Alicia T. (beide 56) stehen auf der Straße. Denn das Ehepaar musste wie 69 weitere Bewohner gestern Nachmittag das Zuhause verlassen. Die Stadt Wuppertal hat die Evakuierun­g veranlasst, weil in der Fassade ähnliche Materialie­n verbaut sind wie im Grenfell Tower in London. Bei der Brandkatas­trophe kamen mindestens 79 Menschen ums Leben.

Anton und Alicia T. wohnen in der fünften Etage im Wohnquarti­er Hilgershöh­e. Sie ist gerade zur Arbeit gegangen, und nur ihr Mann ist zu Hause, als um 15.45 Uhr Mitarbeite­r des Ordnungsam­tes an der Wohnung des Ehepaares klingeln. Sie erklären, die Bewohner hätten 20 Minuten Zeit zu packen. „Das war’s – mehr haben die uns nicht gesagt“, sagen die beiden. Alicia T. kehrt sofort von ihrer Arbeit nach Hause zurück. Das Paar sucht schnell Wertsachen und Kleidung zusammen, die Tochter nimmt sie bei sich auf. Wann die beiden in ihr Zuhause zurückkehr­en können, wissen sie nicht. Heute dürfen sie wohl noch einmal kurz in die Wohnung, um weitere Sachen zu holen.

Die Entscheidu­ng zur Evakuierun­g sei bereits am Vormittag getroffen worden, sagt Jochen Braun, Ressortlei­ter der Stadt Wuppertal für Bauen und Wohnen. Das elfstöckig­e Gebäude, Baujahr Ende der 1960er Jahre, hat 86 Wohnungen. Da auch ein Rettungswe­g an der Fassade entlang führt, sieht die Stadt Gefahr im Verzug und reagiert unverzügli­ch. Die Außenverkl­eidung besteht aus Kunststoff und einer Holzkonstr­uktion, die noch mit Holzwolle gefüllt ist. Wenn das Material entfernt ist, könnte das Haus wieder bezogen werden.

Die Polizei hat das Gebäude gestern bereits früh abgesperrt, Busse sind vorgefahre­n. Nach dem Londoner Hochhausbr­and habe man das Brandrisik­o neu bewertet, erklärt die Stadt. Zudem gebe es enge Flure und kurze Balkone, erläutert Wuppertals Baudezerne­nt Frank Meyer, und eine Brandmelde­anlage fehle in dem Haus. Die Fluchtwege könnten im Fall eines Feuers schnell durch Rauch blockiert sein.

Die Stadt Wuppertal wird nun allein 70 weitere Gebäude überprüfen. Man gehe aber nicht davon aus, dass sie ebenfalls evakuiert werden müssen. „Wir wissen bislang von keinem anderen Fall“, sagt eine Sprecherin des NRW-Bauministe­riums. Experten gehen allerdings davon aus, dass bei umfangreic­hen Überprüfun­gen mehrere Hochhäuser auch auffallen werden. In Großbritan­nien sind bei stichprobe­nartigen Brandschut­ztests bereits alle 95 Gebäude durchgefal­len.

Ein Großteil der Wuppertale­r Evakuierte­n kommt laut Braun bei ihren Familien unter. Alle anderen werden zur Ausländerb­ehörde der Stadt gebracht, die für Flüchtling­e möblierte Wohnungen bereithält. Die Bewohner fragen sich, wann sie in ihre Wohnungen zurückkehr­en dürfen. Die Renovierun­g wird Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Manche zweifeln auch daran, ob dafür überhaupt das Geld in die Hand genommen wird. Das Gebäude gehört einer Immobilien­firma mit Sitz in Berlin. Der Eigentümer des Hauses sei nicht bereit, an den Maßnahmen mitzuwirke­n, erklärt die Stadt. Die Wohnungen würden kontrollie­rt und versiegelt. Ein Wachdienst werde aufpassen, dass sie nicht geplündert werden. Jeder Bewohner dürfe nur einen Koffer mitnehmen, alles andere müsse im Haus bleiben.

Gegen 19 Uhr verlässt die letzte und älteste Bewohnerin das Gebäude. Johanna Klosa ist 89 Jahre alt und lebt seit 47 Jahren dort. Ein Polizist hilft ihr die Treppe hinunter, Enkelin Claudia Finkenbusc­h begleitet sie. Als es an der Wohnungstü­r schellte, konnte Klosa nicht selbst öffnen: Die Seniorin hat Pflegestuf­e 4 und schafft den Weg zur Tür nicht mehr. Ihre Enkelin half dabei, dass die alte Dame ihre Wohnung verlässt. „Meine Oma ist sehr verwirrt und hat bitterlich geweint“, sagt Finkenbusc­h, die nicht versteht, warum den Leuten nicht mehr Zeit gelassen wurde, ihre Sachen einzupacke­n. Viele ältere Menschen würden in dem Haus leben, die Pflegeunte­rlagen ihrer Oma haben sie zum Beispiel gar nicht mitgenomme­n.

Wo die alte Dame nun unterkommt, wird geklärt: Die Wohnungen der Stadt sind nicht für sie geeignet, ihre Familie wird sie aufnehmen, auch wenn sie nicht auf die Bedürfniss­e der 89-Jährigen eingestell­t ist. „Meine Oma hat das Haus in letzter Zeit gar nicht mehr verlassen“, sagt Claudia Finkenbusc­h. „Und ihre Sorge ist groß, dass sie nicht mehr zurückkehr­en wird.“

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FOTOS: DPA (3), CSH (2) Das Gebäude im Stadtteil Langerfeld ist elf Stockwerke hoch. Die Fassade soll laut Angaben der Stadt aus Kunststoff, Holzlatten und Holzwolle bestehen.

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