RP-ONLINE.DE/PANORAMA
VAALS Wer das Höhenprofil der Niederlande zeichnen soll, der wird spontan eine horizontale Linie ziehen. Tatsächlich ist ein Großteil des Landes flach wie ein Brett, weshalb die Holländer aus purem Überlebenswillen die größten DeichbauExperten hervorgebracht haben. Doch gleich westlich von Aachen beginnt eine Art Wurmfortsatz, der sich zwischen Belgien und Deutschland gedrängt hat, um wenigstens noch die Ausläufer von Eifel und Ardennen zu erwischen. Zuid-Limburg heißt diese Region offiziell, doch sie hört auch auf den Namen Heuvelland, Hügelland. Der höchste niederländische Hügel außerhalb von Limburg bringt es gerade mal auf 110 Meter. Der höchste Hügel im Heuvelland ist der Vaalserberg, 322,5 Meter hoch. Da will ich rauf. Ohne Sauerstoffgerät.
Freitagmorgen, zehn Uhr. Ich habe die Wanderschuhe geschnürt, den Rucksack angelegt, denn das wird kein Spaziergang. Ich beginne meine Tour mitten im Vijlenerbos, einem Wald, zehn Kilometer vom Aachener Hauptbahnhof entfernt. Die Grensroute 6 soll mich auf 15 Ki- lometern nicht nur über den Vaalserberg führen, sondern auch über die anderen höchsten Gipfel der Niederlande. Wobei nicht so ganz klar ist, wo die genau liegen. Zwar gibt es einen Wikipedia-Eintrag für die höchsten niederländischen Berge, aber nur der Gipfel des Vaalserbergs lässt sich genau lokalisieren.
Die Strecke ist ausgeschildert, das Schild allerdings ist leicht zu übersehen. Nach einer Stunde stehe ich wieder vor meinem Auto. Beim zweiten Versuch entscheide ich mich an der Berghütte für rechts. Ja, Berghütte. Auf 260 Metern steht das „Boscafe ‘t Hijgend Hert“, eine alpine Berghütte oder das, was sich ein Niederländer darunter vorstellt.
Wenige Minuten später komme ich zum ersten Mal hinaus aus dem Wald und aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Vor mir liegt wirklich ein Tal und dahinter wirklich eine Hügellandschaft und das hier ist wirklich Holland. Aus dem breiten Waldweg wird sogar ein enger Pfad, überwachsen mit Gestrüpp, das kratzt und brennt. Wanderer kommen mir selten entgegen, bloß Einheimische, die ihren Hund zwischen Mais- und Getreidefeldern spazieren führen.
Nachdem ich eine weitere Ehrenrunde gedreht habe (es gab an dieser Gabelung kein Schild, wirklich!), beginnt der Anstieg zum Vaalserberg. Von 160 Metern hinauf auf 322,5. Der führt mich zunächst in den namensgebenden Ort Vaals. Der asphaltierte Weg wird so steil, dass ich meine Oberschenkel spüre. Mittendrin wird aus der Gemeinde Vaals ohne Ankündigung das zu Aachen gehörende Dorf Vaalserquartier, und auf deutschem Gebiet überwinde ich die letzten hundert Höhenmeter. Im Wald hat es 25 Prozent Steigung. Locker. Auf der deutsch-niederländischen Grenze laufe ich die letzten Meter. Doch noch bevor ich den Gipfel erreiche, rieche ich: Frittenfett.
Die Spitze des Vaalserbergs ist kein schöner Ort, aber ein interessanter. Die Niederländer haben extra ein Monument Eisenkörper hin- gestellt, um den höchsten Punkt zu markieren. Obwohl das genaugenommen nur noch für den europäischen Teil gilt, denn 2010 wurden die Niederländischen Antillen aufgelöst und die Insel Saba mit dem Vulkan Mount Scenerey – 877 Meter hoch – zu einer „besonderen Gemeinde“ernannt. Der Gipfel des Vaalserbergs ist selbstverständlich voll erschlossen. Eine Straße führt hinauf, Parkplätze sind ausreichend vorhanden, Kinder können sich in einem Labyrinth verirren, und verhungern muss auch niemand. Es gibt zwei Restaurants, eines davon in einem Aussichtsturm, und einen Imbiss. Es gibt sogar noch einen zweiten Aussichtsturm, der aber steht ein paar Meter weiter auf belgischer Seite – inklusive einer weiteren Frittenbude. Nur die Deutschen haben keinen Platz, um Geld zu verdienen, ihr Land beginnt im Wald.
Drei Länder stoßen hier aneinander, auch dieser Punkt ist mit einem Stein markiert. Das Dreiländereck war bis 1919 sogar ein Vierländereck, denn als sich Preußen und die Niederlande nach dem Wiener Kongress (1815) nicht auf einen Grenzverlauf einigen konnten, ließen sie in der Mitte ein neutrales Stück üb- rig: „Neutral-Moresnet“, 3,4 Quadratkilometer groß. Das wurde erst 1919 Belgien zugesprochen.
Fast nur noch durch Wald laufe ich an der niederländisch-belgischen Grenze weiter, übersehe nur noch einmal das Schild, dann stehe ich vor meinem Auto, sieben Stunden nach meinem Aufbruch. Verausgabt habe ich mich. Als sei ich in den Bergen gewesen.