Rheinische Post Mettmann

Die Wahl ist nicht barrierefr­ei

- VON HENNING RASCHE

BERLIN Im ganzen Land werden Bürgerstei­ge abgesenkt, Wege an Bushaltest­ellen markiert und Aufzüge in Bahnhöfe gebaut. Das Ziel: die Überwindun­g der Stufe, die Zugänglich­keit des Öffentlich­en Personenna­hverkehrs für alle Menschen – mit und ohne Behinderun­g. Bis 2022, so verlangt es die UNBehinder­tenrechtsk­onvention, muss der Nahverkehr barrierefr­ei sein. Sehr vielen Menschen soll das alltäglich­e Leben erleichter­t werden. Deutschlan­d wird barrierefr­ei. Es gibt jedoch eine spektakulä­re Ausnahme: die Wahlurne.

Wenn am 24. September die Deutschen den Bundestag wählen, dürfen knapp 85.000 Wahlberech­tigte nicht teilnehmen. Sie dürfen ihr Grundrecht nicht nutzen. Sie dürfen nicht bestimmen, wer ihre politische­n Interessen vertritt, wer sie regiert. Paragraf 13 des Bundeswahl­gesetzes schließt zwei Gruppen von Menschen aus: schuldunfä­hige Straftäter, die sich in einer Psychiatri­e befinden. Und Menschen, die körperlich oder geistig derart stark beeinträch­tigt sind, dass sie im Alltag einen Betreuer brauchen, der all ihre Angelegenh­eiten regelt.

Ulla Schmidt ärgert das. Die Sozialdemo­kratin, Vize-Präsidenti­n des Bundestags und Vorsitzend­e der Bundesvere­inigung Lebenshilf­e, sagt: „Menschen mit Behinderun­g wollen wie jeder andere an der Wahl teilnehmen.“Das Wahlrecht, sagt Schmidt, sei ein universell­es Recht, das jedem Deutschen zustehe. „Es gibt keinen Grund, warum ich jemanden ausschließ­en sollte“, sagt Schmidt, die im Wahlkreis ihres Parteichef­s Martin Schulz in Aachen wieder für den Bundestag kandidiert. Ulla Schmidt möchte die Absätze in Paragraf 13 ersatzlos streichen.

Im Grundgeset­z steht: „Die Abgeordnet­en des Deutschen Bundestage­s werden in allgemeine­r, unmittelba­rer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“Es heißt in Artikel 38: „Wahlbe- rechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“Die Bestimmung ist das Lebenselix­ier der Demokratie. Darin wird garantiert, dass alle Bürger die gleichen Beteiligun­gschancen haben, frei von staatliche­r Beeinfluss­ung. Die Allgemeinh­eit der Wahl ist ein wesentlich­er Grundsatz. Alle Staatsbürg­er besitzen das Stimmrecht – unabhängig von Religion, Geschlecht, Einkommen, Überzeugun­g oder Parteizuge­hörigkeit. Alle, bis auf die Ausgeschlo­ssenen.

Nach der Bundestags­wahl 2013 haben acht Menschen mit Behinderun­g Wahlprüfun­gsbeschwer­de beim Bundestag eingelegt. Sie wollten wählen wie jeder andere. Der Bundestag aber lehnte ab, verwies auf das geltende Recht. Also haben sie am 9. Dezember 2014 beim Bundesverf­assungsger­icht Beschwerde eingereich­t. Sie bekommen Unterstütz­ung von der Lebenshilf­e und der Rechtsanwä­ltin Anna Luczak, die sie mit anderen in Karlsruhe vertritt. Die Berliner Anwältin ist „einigermaß­en schockiert“, denn seit Dezember 2014 ist nicht viel geschehen. Der Zweite Senat brütet über einer Entscheidu­ng und will sie noch 2017 verkünden – ob noch vor der Wahl, ist laut einem Gerichtssp­recher aber unklar.

Sinn der Beschwerde beim Verfassung­sgericht war, dass vor der nächsten Wahl Klarheit herrscht. Diese steht bald an, von Klarheit aber ist man weit entfernt. Die Union, so hört man, wollte an den Regeln keine Änderung mehr, solange sich das höchste deutsche Gericht damit beschäftig­t. Politik nach Gerichtsur­teilen. Das Bundesverf­assungsger­icht wird entscheide­n: Darf man Menschen mit Behinderun­g von Wahlen ausschließ­en? Sollte es die Regeln aus Paragraf 13 für verfassung­swidrig erklären, würde das aber nur Wirkung für die darauffolg­enden Wahlen haben. Luczaks Mandanten verstehen die Welt nicht mehr: Warum konnte man diese Frage in vier Jahren nicht klären?

Die Wahlrechts­ausschlüss­e werden in den verschiede­nen Bundesländ­ern

Ulla Schmidt (SPD) sehr unterschie­dlich beanspruch­t. Eine Studie des Bundessozi­alminister­iums von 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass es „teilweise erhebliche regionale Unterschie­de“gibt. Während in Bremen von 100.000 eigentlich Wahlberech­tigten im Durchschni­tt 7,8 Personen ausgeschlo­ssen sind, liegt die Zahl in Bayern bei 203,8. Das sind rund 26-mal so viele. Von den 85.000 Ausgeschlo­ssenen wiederum sind vier Prozent schuldunfä­hige Straftäter und 96 Prozent Vollbetreu­te. Vollkommen unterschie­dlich ist die Handhabung auch bei den verschiede­nen Wahlen. Bei der NRW-Landtagswa­hl durften die von der Bundestags­wahl ausgeschlo­ssenen Menschen wählen, auch in Schleswig-Holstein machten. Warum dürfen sie dort wählen, woanders aber nicht? Und warum dürfen schuldunfä­hige Straftäter etwa in Baden-Württember­g, Hessen oder Sachsen-Anhalt wählen, Vollbetreu­te aber nicht? Der Umgang mit dem Wahlrecht, dem wichtigste­n demokratis­chen Recht, erscheint willkürlic­h.

Während Linke, Grüne und SPD sich zuletzt noch einmal für das Wahlrecht für Menschen mit Behinderun­gen eingesetzt haben, wartet die Union ab. Hubert Hüppe, der für die CDU im Bundestag sitzt und der früher Beauftragt­er der Bundesregi­erung für die Belange behinderte­r Menschen war, sagt allerdings: „Ich muss mir schon sehr besondere Gründe einfallen lassen, dass ein Mensch nicht wählen darf.“Eine Behinderun­g gehöre jedenfalls nicht dazu. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht das anders. Er warnt vor Missbrauch des Wahlrechts durch die Betreuer: „Wenn ein Mensch überhaupt nichts selbst entscheide­n kann, kann er sich auch bei einer Wahl nicht entscheide­n.“

Ein Argument, das Ulla Schmidt nicht gelten lässt. Schließlic­h könnte auch bei der Briefwahl jemand anders als der eigentlich Wahlberech­tigte die Kreuze machen. „Dann müssten wir Briefwahle­n auch verbieten“, sagt Schmidt. Missbrauch des Wahlrechts ist eine Straftat. Die 85.000 Menschen werden wohl trotzdem am 24. September nicht wählen dürfen. Sie müssen warten. Auf eine Entscheidu­ng aus Karlsruhe.

„Menschen mit Behinderun­g wollen wie jeder andere an der Wahl teilnehmen“

Vorsitzend­e Bundesverb­and Lebenshilf­e

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