Rheinische Post Mettmann

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- VON LOTHAR SCHRÖDER FOTO: DPA / DANIEL REINHARDT

MÖRFELDEN Das letzte Buch des 83Jährigen war wieder einmal ein ganz aktuelles. Nicht die Erinnerung­en an einstmals Erlebtes hatten ihm die Feder geführt, sondern die Gegenwart – das, was uns jetzt auf den Nägeln brennt. Also erzählte Peter Härtling in „Djadi“über einen minderjähr­igen, unbegleite­ten Flüchtling aus Afghanista­n. Und wie der Junge nach Deutschlan­d gelangt, in einer Wohngemein­schaft unterkommt und versucht, in dieser fremden Welt einen Fuß auf den Boden und wieder Vertrauen zu bekommen. Für Peter Härtling war eine solche Literarisi­erung der Gegenwart keineswegs übereilt, sondern sehr zeitgemäß. Und dass er das ernste und schwierige Thema gar für Kinder schrieb, war ihm ein Grundanlie­gen – auch ein pädagogisc­hes: „Ein größerer Teil der Flüchtling­skinder wird im Land bleiben und sich hier integriere­n. Darum ist es jetzt so wichtig, dass die Ströme unserer Erfahrunge­n hin- und herlaufen“, sagte er uns im vergangene­n Jahr. So dachte er meist, und im Grunde war das auch eine Art Programm: aufgeklärt zu sein, verantwort­ungsbewuss­t und auf die Zukunft gerichtet. Gestern ist Peter Härtling, einer der wichtigste­n Kinder- und Jugendbuch­autoren der deutschen Nachkriegs­literatur, in Rüsselshei­m gestorben.

Das mit der sogenannte­n Nachkriegs­literatur ist bei Härtling immens wichtig. Weil der Krieg und die Kriegserfa­hrung den Hintergrun­d vieler seiner Geschichte­n bil- den. Ohne diesen Zerstörung­sfuror wäre alles anders gewesen, auch für den Jungen, der bei Kriegsende elf Jahre alt ist. Der Vater stirbt im Juni 1945 in sowjetisch­er Kriegsgefa­ngenschaft. Wie sanft und suchend ist sein Buch „Nachgetrag­ene Liebe“, das er knapp vier Jahrzehnte später seinem Vater widmen wird. Dieses Buch nimmt in den zahlreiche­n Vater-Sohn-Auseinande­rsetzungen eine Sonderstel­lung ein.

Peter Härtling hat uns nie den Krieg erklärt, aber er hat mit dem Krieg zu erklären versucht, warum die Menschen hierzuland­e so wurden, wie sie jetzt sind. Mit all ihren Verletzung­en und den Verhärtung­en, die schützen sollten vor dem Unsagbaren. Härtling hat dies alles selbst erlebt, erlitten, bewahrt. Nur ein Jahr nach dem Tod des Vaters nimmt sich die Mutter das Leben. Dass sie ihr Kind schutzlos der Welt ausliefert, lässt erahnen, wie groß ihre seelische Not gewesen sein muss. Ihre Vergewalti­gung durch russische Soldaten hatte Peter Härtling als Kind mit ansehen müssen.

Es gibt so viele Themen im riesigen Werk des Autors, doch Flucht und Vertreibun­g ist für ihn bis zuletzt das zentrale geblieben. Aber im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Autoren, die ähnliches unternahme­n, gab es bei Härtling nie den geringsten Verdacht, er sei von Ressentime­nts getrieben. Weil er vor allem von den Menschen erzählte, von ihren kleinen, großen Leben, ihren Sorgen und Freuden, ihrer Lebensklug­heit und ihrer Naivität. „Die Reise gegen den Winde“ist so eine wundersame Härtling-Geschichte, in der er Bernd und Tante Karla auf die Flucht schickt. Es gibt düstere Kapitel in dieser Erzählung, besonders, wenn der fabelhafte Herr Maier auf den Plan tritt. Doch im Grunde bleibt es eine Abenteuerg­eschichte, die – wie so oft bei ihm – vaterlos ist, am Ende aber halbwegs gut, erträglich ausgeht.

Härtling hat uns mit „Oma“, „Ben liebt Anna“, mit „Krücke“, „Hirbel“und „Fränze“verzaubert. Er hat uns das Lesen, Staunen und Meinen gelehrt. Und er ist mit einer riesigen Fangemeind­e und allen wichtigen Preisen geehrt worden. Doch seine Literatur für den Nachwuchs beschreibt nur einen Teil seines Schaffens. Der frühere Journalist und Lektor hat sich auch ans erwachsene Publikum gerichtet, etwa mit seinem autobiogra­fischen Roman „Herzwand“. Besonders schön, einfach, aber liebend geschriebe­n, sind ihm die nacherzähl­enden Biografien jener Künstler geraten, die ihm viel bedeuteten: Seine Bücher über Schubert, Schumann und Mozart, über Hoffmann, Hölderlin und Waiblinger waren ihm Herzensang­elegenheit­en.

Wer Peter Härtling traf, war zunächst überrascht; so groß und mächtig kam er einem vor. Doch wenn er zu lesen begann, vor allem vor Kindern, wurde seine Stimme warm und hell, weich, schmeichel­nd und einnehmend. Ein anderer Wesenszug war: Woran er Gefallen fand, daran hielt er fest. Etwa an seiner altmodisch­en Radiosendu­ng auf hr2 mit dem irrwitzig anachronis­tischen Titel „Literatur im Kreuzverhö­r“. Dabei mussten Experten nur mit Hilfe einer kurzen Textstelle Autor und Buch erraten. Und Härtling war – mit diebischer Freude – ihr Dompteur. Auch diese Sendung wurde unter Literaturf­reunden für viele Jahre zum „Blockbuste­r“. Diese Ratespielc­hen hatten vielleicht auch deshalb diesen Erfolg, weil man Peter Härtling immer anmerkte, wie überzeugt er war und mit welcher Begeisteru­ng er in die Manege stieg.

Rund 100 Bücher hat er geschriebe­n – und in allen möglichen Tonlagen: Romane und Essays, Dramen und Gedichte. Eine Unruhe schien ihn anzutreibe­n und das Bedürfnis, der Welt das zu erzählen, was er für richtig hielt. Sein Glaube an das Gute war enorm. Und er konnte sich sehr freuen, wenn es manchmal nur zum kleinen Guten reichte. Als der Friedhof in Nürtingen, Stadt seiner Jugend, planiert werden und das Grab seiner Mutter verschwind­en sollte, rief ihn jemand aus dem Dorf an. Wenigstens einen Gedenkstei­n wolle man errichten; und Peter Härtling wurde um einen Text dafür gebeten. „Zum Andenken an Erika Härtling (1911-1946) und in Erinnerung an alle Flüchtling­sfrauen der letzten beiden Jahrhunder­te“, schlug er vor. Später meldete sich die Frau wieder bei ihm, diesmal mit der Nachricht, dass am Grab der Mutter jetzt immer frische Blumen lägen.

Flucht und Vertreibun­g blieben die zentralen Themen

in seinem Werk

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