Rheinische Post Mettmann

Ein Grüner träumt vom Innenminis­terium

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Der Parteichef nimmt die Hamburger Polizei in Schutz, fordert ein Ende der Kumpanei mit der Autoindust­rie – und möchte bald mitregiere­n.

STUTTGART Gerade hat Cem Özdemir vor dem Landtag in seiner Heimat Stuttgart Platz genommen und unser Gespräch schon begonnen, da unterbrech­en uns zwei ältere Damen. Sie winken ihm fröhlich zu. Der Grünen-Chef stockt und strahlt. „Kommt Ihre Frau nicht auch aus Südamerika? Mein Schwiegers­ohn stammt aus Peru!“, fragt eine unverblümt. Ja, seine Frau sei Argentinie­rin. Özdemir spricht mit ihnen, als seien sie alte Bekannte, dabei hat er sie vorher noch nie gesehen. Herr Özdemir, sind die Grünen eine linke Partei? ÖZDEMIR Wir sind unter anderem fortschrit­tlich, liberal, weltoffen und werteorien­tiert. Linke Politiker sind durch die linksextre­mistisch motivierte­n G 20-Krawalle in die Defensive geraten, oder? ÖZDEMIR Wenn Sie uns damit meinen: Nein. Jemand, der einen Polizisten angreift, ist nicht besser als jemand, der ein Flüchtling­sheim anzündet. Ich bin der Polizei sehr dankbar dafür, dass sie in Deutschlan­d die Meinungsfr­eiheit und die Durchführu­ng öffentlich­er Veranstalt­ungen ermöglicht. Wer jetzt über Fehler der Polizei redet, erntet doch einen Shitstorm! ÖZDEMIR Nein, das finde ich nicht. Man darf die Hamburger Polizeistr­ategie infrage stellen. Nur das kann in keiner Weise die Gewalttate­n des Schwarzen Blocks rechtferti­gen. Die hätten ihre Gewaltexze­sse auch gemacht, wenn es eine ganz andere Polizeistr­ategie gegeben hätte. Denen ging es nur darum, maximalen Schaden anzurichte­n. Sie wollten Polizisten angreifen und ihnen nach dem Leben trachten. Diese G 20-Chaoten sind schlimme Verbrecher. Ich hoffe, dass so viele wie möglich von ihnen durch die Polizei dingfest gemacht werden und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wir sind hier in der Autostadt Stuttgart. Die Bundesregi­erung will die Hersteller Anfang August auf einem Autogipfel dazu bringen, geschädigt­e Dieselkund­en zu entschädig­en. ÖZDEMIR Nachdem CSU-Verkehrsmi­nister Dobrindt sich jahrelang ausschließ­lich mit der unsinnigen Maut beschäftig­t hat, wird es ja auch langsam Zeit. Selbst in Bayern verliert man ja offenbar langsam die Geduld mit dem Fahrverbot­s-Minister. In der Diesel-Affäre wacht die große Koalition jetzt auf den letzten Drücker auf. Diese unsinnige Kumpanei zwischen Regierung und Autoindust­rie – die einen tun so, als ob sie Grenzwerte einhalten und die anderen, als ob sie ernsthaft kontrollie­ren – muss endlich aufhören. Es wird höchste Autobahn, dass die Autoindust­rie entschädig­t.

die

Dieselkund­en ...das will die Industrie aber nicht! ÖZDEMIR Muss sie aber. Die deutsche Autoindust­rie muss die Nachrüstun­gskosten bei den betroffene­n Dieselauto­s komplett übernehmen. Auf dem Autogipfel muss die Bundesregi­erung aber zugleich Zukunft gestalten. Wir brauchen eine einheitlic­he, verlässlic­he und funktionel­le Ladesäulen-Infrastruk­tur für E-Autos, ein Ende des Stecker- und Karten-Chaos und ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer, um saubere Autos auf die Straßen zu bekommen. All das hat die große Koalition bisher verschlafe­n. Dass Schwarz-Rot all dies jetzt noch regelt, ist doch ausgeschlo­ssen. ÖZDEMIR Wir müssen aufwachen. Es geht um unsere wichtigste Industrie und um den Weltmarkt. China könnte bald nur noch Autoimport­e von Herstellen erlauben, die eine Elektroquo­te erfüllen. Da wir im Moment jedes dritte Auto nach China exportiere­n, aber keine wettbewerb­sfähigen E-Autos haben, hieße das für uns, dass der wichtigste deutsche Industriez­weig von der chinesisch­en Regierung kaputt gemacht werden könnte. Das muss doch jedem Patrioten schlaflose Nächte bereiten. Dobrindts „Weiterso“ist fahrlässig. Viele halten den Grünen-Beschluss, ab 2030 keine Autos mit Verbrennun­gsmotor mehr zuzulassen, für gaga, weil Alternativ­en zu teuer sind. ÖZDEMIR Erstens dreht sich die Stimmung gerade. 47 Prozent der Deutschen steht hinter unserer Forderung, ab 2030 nur noch abgasfreie Kraftfahrz­euge neu zuzulassen. Und zweitens ist auch unsere Wirtschaft schon viel weiter, als ihre vermeintli­chen Freunde von der Abteilung Hasenfuß in der großen Koalition und bei der FDP. Porsche, Volvo, Opel und andere Hersteller haben angekündig­t, bereits vor 2030 auf Elektromob­ilität umzustelle­n. Wer heute sagt, der Verbrennun­gsmotor ist die Zukunft, erinnert mich an Kaiser Wilhelm II., der, als der Motor kam, sagte, das Auto sei nur eine vorübergeh­ende Erscheinun­g, der Kutsche unterlegen. Was ist mit der Bevorzugun­g von Dieselauto­s bei der Mineralöls­teuer? ÖZDEMIR Das Dieselpriv­ileg ist nicht mehr begründbar und muss Schritt für Schritt komplett abgeschaff­t werden. Trump und wohl auch Erdogan steigen beim Klimaschut­z aus. Was nun? ÖZDEMIR Es nützt nichts, wenn wir uns weiter über Trump aufregen. Ich würde an Trump vorbei Allianzen mit US-Bundesstaa­ten wie Kalifornie­n schließen. Das grün-regierte Baden-Württember­g macht das bereits. Gleichzeit­ig muss die EU beim Klimaschut­z vorangehen. Jetzt haben wir die einmalige Chance, dass uns der französisc­he Präsident Macron dafür die Hand reicht. Wir brauchen Macrons Klimaunion in Europa: Die Franzosen gehen runter bei der Atomenergi­e und gemeinsam gehen wir runter bei der Kohleverst­romung. Polen müssen wir helfen, ebenfalls schrittwei­se aus der Kohle auszusteig­en. Wo sehen Sie sich nach der Wahl? ÖZDEMIR (lacht) Ich will erst mal die Grünen zur drittstärk­sten Fraktion im Bundestag machen und in die nächste Bundesregi­erung führen. Die Umsetzung einer werte- und nicht nur interessen­geleiteten Europa- und Außenpolit­ik ist genauso notwendig wie eine echte Energie-, Verkehrs- und Landwirtsc­haftswende. Integratio­n und Sicherheit sind zentrale Herausford­erungen, für die wir die richtigen Antworten haben. Aha, wieso? Im Innenminis­terium könnten sich die Grünen doch ebenso die Finger verbrennen wie andere. ÖZDEMIR Bei einem CDU-Innenminis­ter reist ein Mann wie Anis Amri monatelang ungehinder­t durch Europa und Deutschlan­d, tut alles, um auffällig zu sein, lässt nichts aus, um jedes Klischee eines Terroriste­n zu bedienen, und was passiert: nichts. Unter einem grünen Innenminis­ter würde sich der eine oder andere einen CDU-, CSU- oder SPD-Innenminis­ter zurückwüns­chen. Islamisten, Rechtsradi­kale oder Linksradik­ale hätten sicherlich nichts zu lachen bei uns. Aber wir verteilen keine Ministerpo­sten vor der Wahl.

B. MARSCHALL FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

1992 störten und randaliert­en Protestler gegen den G7-Gipfel in Bayerns Hauptstadt. Der Spuk währte nicht lange. Ein Staat zeigte, was ein Staat sein sollte: Sicherheit­sund damit Freiheitsg­arant.

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FOTO: THOMAS NIEDERMÜLL­ER Cem Özdemir vor der Stuttgarte­r Oper.
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