Nerv nicht!
Auch diesen Text werde ich nicht in einem Rutsch schreiben. Das liegt am wenigsten am Kollegen, der mir von seinem Wochenende erzählt, oder einem neuen Gedanken. Es liegt vor allem daran, dass ich regelmäßig aufs Handy schaue. Hat mir jemand eine Mail geschrieben? Nein, aber da ist eine neue Facebook-Benachrichtigung. Von wem denn? Im Feed ein Artikel über einen Mann, der Pokémon Go in 332 Tagen durchgespielt hat. Schnell mal lesen. Hat mir jetzt jemand gemailt? Ja – nur ein Newsletter. Und schon sind 20 Minuten weg.
Der Befund ist eindeutig: Ich bin kein Einzelfall. Wir verbringen zu viel Zeit mit unserem Handy, Apps, Browsern, zu viel Zeit auf Facebook, Twitter, mit Snapchat und Instagram. Ironisch seufzend räumen wir unsere Sucht ein, versuchen es mal einen Tag ohne Internet, wissen, dass das nicht hilft, und dann hilft es auch nicht. Geht eben nicht. Wir sind einfach nicht diszipliniert genug.
Falsch, sagt der US-amerikanische Technologie-Experte Tristan Harris, nicht wir tragen die Schuld am Verführtwerden, sondern die Unternehmen, die uns mit ihrer Software, ihren Apps verführen. Die wollen, dass wir möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, weil mehr Zeit mehr Daten und höhere Werbeeinahmen bringt. Der frühere Google-Mitarbeiter ist Speerspitze einer kleinen, aber wachsenden Bewegung von Menschen, die Facebook & Co. stärker an ihre Verantwortung erinnern wollen. „Wenn das Silicon Valley ein Gewissen hat, dann heißt es Harris“, schrieb das US-Magazin „The Atlantic“über ihn.
Die meisten Tricks sind offensichtlich, aber wirkungsvoll. Facebook lockt uns mit einer Benachrichtigung, wieder in die App zurückzukehren. Da hat jemand Geburtstag. Da hat jemand unser Posting geliked oder kommentiert. Da ist jemand mit einem Live-Video auf Sendung. Losloslos. Und sind wir erst einmal da, scrollen und scrollen wir den Feed nach unten – und weil der nie endet, können wir uns kaum losreißen.
Harris bezeichnet das Handy als Glücksspielautomaten in der Hosentasche. Wir holen es heraus, in der Hoffnung auf eine Belohnung. Das Tückische: Weil wir nicht wissen, wann die Belohnung kommt, schauen wir ständig nach. „Variable Belohnung“heißt das Prinzip, das uns süchtig macht. Nicht wir kontrollieren die Technik, sondern die Technik kontrolliert uns.
Beliebter Einwand: Das kann der Nutzer alles abstellen. Aber: Die Standardeinstellungen sind so gesetzt, dass wir eine Menge abstellen müssten, um Ruhe zu haben. Und bevor wir überhaupt auf die Idee gekommen sind, verhalten wir uns bereits wie Süchtige. Einem Kettenraucher fehlt auch der Wille, wieder aufzuhören. Vieles lässt sich auch gar nicht abstellen. Wir haben nicht die Wahl zwischen einem endlosen FacebookStream und einem Facebook mit Seitenzahlen.
Wenn die Hersteller die Verantwortung auf den Nutzer schieben, ist das also ein billiger Trick, um ihn möglichst schutzlos ihren Verführungskünsten auszusetzen. Denn sie führen ganze Abteilungen mit Designern, die nur damit beschäftigt sind, Apps zu entwerfen, die uns möglichst lange binden, selbst wenn wir uns längst überfressen haben. Verzicht ist im Gegensatz zu Alkohol oder Zigaretten keine Option, denn das Handy ist nicht bloß Suchtbefriedigung, sondern unverzichtbar im Alltag. Wir können auch nicht beschließen, ab sofort nichts mehr zu essen.
Harris fordert mit einigem Recht, dass Unternehmen Apps so gestalten, dass sie nicht unsere Zeit verschwenden, sondern unser Leben besser machen. Möglichst gute Apps, die nicht nur den Hersteller glücklich machen,
„Nicht wir tragen die Schuld am Verführtwerden, sondern die Unternehmen, die uns mit ihren Apps verführen“
Tristan Harris
Technologie-Experte