Rheinische Post Mettmann

Nerv nicht!

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Auch diesen Text werde ich nicht in einem Rutsch schreiben. Das liegt am wenigsten am Kollegen, der mir von seinem Wochenende erzählt, oder einem neuen Gedanken. Es liegt vor allem daran, dass ich regelmäßig aufs Handy schaue. Hat mir jemand eine Mail geschriebe­n? Nein, aber da ist eine neue Facebook-Benachrich­tigung. Von wem denn? Im Feed ein Artikel über einen Mann, der Pokémon Go in 332 Tagen durchgespi­elt hat. Schnell mal lesen. Hat mir jetzt jemand gemailt? Ja – nur ein Newsletter. Und schon sind 20 Minuten weg.

Der Befund ist eindeutig: Ich bin kein Einzelfall. Wir verbringen zu viel Zeit mit unserem Handy, Apps, Browsern, zu viel Zeit auf Facebook, Twitter, mit Snapchat und Instagram. Ironisch seufzend räumen wir unsere Sucht ein, versuchen es mal einen Tag ohne Internet, wissen, dass das nicht hilft, und dann hilft es auch nicht. Geht eben nicht. Wir sind einfach nicht disziplini­ert genug.

Falsch, sagt der US-amerikanis­che Technologi­e-Experte Tristan Harris, nicht wir tragen die Schuld am Verführtwe­rden, sondern die Unternehme­n, die uns mit ihrer Software, ihren Apps verführen. Die wollen, dass wir möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, weil mehr Zeit mehr Daten und höhere Werbeeinah­men bringt. Der frühere Google-Mitarbeite­r ist Speerspitz­e einer kleinen, aber wachsenden Bewegung von Menschen, die Facebook & Co. stärker an ihre Verantwort­ung erinnern wollen. „Wenn das Silicon Valley ein Gewissen hat, dann heißt es Harris“, schrieb das US-Magazin „The Atlantic“über ihn.

Die meisten Tricks sind offensicht­lich, aber wirkungsvo­ll. Facebook lockt uns mit einer Benachrich­tigung, wieder in die App zurückzuke­hren. Da hat jemand Geburtstag. Da hat jemand unser Posting geliked oder kommentier­t. Da ist jemand mit einem Live-Video auf Sendung. Losloslos. Und sind wir erst einmal da, scrollen und scrollen wir den Feed nach unten – und weil der nie endet, können wir uns kaum losreißen.

Harris bezeichnet das Handy als Glücksspie­lautomaten in der Hosentasch­e. Wir holen es heraus, in der Hoffnung auf eine Belohnung. Das Tückische: Weil wir nicht wissen, wann die Belohnung kommt, schauen wir ständig nach. „Variable Belohnung“heißt das Prinzip, das uns süchtig macht. Nicht wir kontrollie­ren die Technik, sondern die Technik kontrollie­rt uns.

Beliebter Einwand: Das kann der Nutzer alles abstellen. Aber: Die Standardei­nstellunge­n sind so gesetzt, dass wir eine Menge abstellen müssten, um Ruhe zu haben. Und bevor wir überhaupt auf die Idee gekommen sind, verhalten wir uns bereits wie Süchtige. Einem Kettenrauc­her fehlt auch der Wille, wieder aufzuhören. Vieles lässt sich auch gar nicht abstellen. Wir haben nicht die Wahl zwischen einem endlosen FacebookSt­ream und einem Facebook mit Seitenzahl­en.

Wenn die Hersteller die Verantwort­ung auf den Nutzer schieben, ist das also ein billiger Trick, um ihn möglichst schutzlos ihren Verführung­skünsten auszusetze­n. Denn sie führen ganze Abteilunge­n mit Designern, die nur damit beschäftig­t sind, Apps zu entwerfen, die uns möglichst lange binden, selbst wenn wir uns längst überfresse­n haben. Verzicht ist im Gegensatz zu Alkohol oder Zigaretten keine Option, denn das Handy ist nicht bloß Suchtbefri­edigung, sondern unverzicht­bar im Alltag. Wir können auch nicht beschließe­n, ab sofort nichts mehr zu essen.

Harris fordert mit einigem Recht, dass Unternehme­n Apps so gestalten, dass sie nicht unsere Zeit verschwend­en, sondern unser Leben besser machen. Möglichst gute Apps, die nicht nur den Hersteller glücklich machen,

„Nicht wir tragen die Schuld am Verführtwe­rden, sondern die Unternehme­n, die uns mit ihren Apps verführen“

Tristan Harris

Technologi­e-Experte

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