Rheinische Post Mettmann

Das Schweigen der Denker

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Wolf Biermann ist das, was man ein Schreckges­penst für wahlkämpfe­nde Politiker nennen könnte. So zieht er mit der frohen Botschaft durch die Lande, mit „großer Regelmäßig­keit immer andere Parteien gewählt zu haben“. Für viele Parteisold­aten ist so ein Eigenbrötl­er der Horror schlechthi­n: Wählt einfach, was ihm passt oder gerade in den Sinn kommt!

„Seid wählerisch“ruft der 80-jährige Liedermach­er beherzt durchs Land mit einer der ungewöhnli­chsten Tourneen überhaupt: Wolf Biermann ist auf großer Wahlkampfr­eise, nur fürs Wählen. Und damit er nicht nur seine gleichfall­s in die Jahre gekommenen Fans erreicht – die aus Altersweis­heit ohnehin zur Urne schreiten würden oder am Sonntag nichts anderes vorhaben – diskutiert er vor jedem Konzert immer mit Schülern. Über den Sinn der Wahlen. Und darüber, wie toll Demokratie ist. „Selbst die unvollkomm­enste Demokratie ist immer noch viel besser als die allerbeste Diktatur“, sagt Biermann dann meist. Erst den Schülern und abends im Konzert. Sicher ist sicher.

Wolf Biermann steht mit einem solchen Engagement ziemlich alleine da. Schriftste­ller und Intellektu­elle haben sich aus dem Wahlkampf weitgehend zurückgezo­gen. Ein Tiefpunkt dieser Entwicklun­g war das Bekenntnis des deutschen Star-Soziologen Harald Welzer und dessen Wahlverwei­gerung vor vier Jahren. Natürlich steckte mehr als nur eine öffentlich­keitswirks­ame Bockigkeit dahinter. So sieht Welzer im Akt des Boykotts auch eine Aufkündigu­ng des Einverstän­dnisses der parteipoli­tischen Verhältnis­se: Alle hätten austauschb­are Positionen, keine davon stünde für eine zukunftsfä­hige Politik. Das lässt sich leicht und oft sagen. Intellektu­elle Luxusprobl­eme. Dabei gab es deutsche Zeiten, in denen sich Autoren hörbar zu Wort meldeten. Günter Grass war es, der ab Mitte der 1960er Jahre trommelnd den Zug der Autoren mit Martin Walser und Heinrich Böll für seine „Es-Pe-De“anführte, insbesonde­re für sein Idol, den späteren Kanzler Willy Brandt. Die sozialdemo­kratische Wählerinit­iative um Günter Grass für die „gute alte tante spd“gilt als Ausnahme und war nach den Worten des Politikwis­senschaftl­ers Ulrich von Alemann vor allem der Um- und Aufbruchss­timmung dieser Zeit geschuldet: „Die Wortmeldun­gen der Autoren waren schon wichtig; sie gehörten zum politische­n Gesamtbild.“Hinzu kam eine starke Polarisier­ung. Autoren fühlten sich herausgefo­rdert, wenn sie „Pinscher“(CDU-Bundeskanz­ler Ludwig Erhard) genannt wurden oder „Ratten und Schmeißfli­egen“(CSU-Chef Franz Josef Strauß). Eine ähnliche Schützenhi­lfe der Künstler gab es danach nicht mehr. Es bleib bei einzelnen, mitunter anekdotisc­h wirkenden Sympathieb­ekundungen – Joseph Beuys schlug sich auf die Seite der Grünen, während Udo Lindenberg Seit’ an Seit’ mit Gerhard Schröder marschiert­e.

Es blieben Randnotize­n der jeweiligen Wahlkämpfe. Zumal die tiefen Gräben zwischen Geist und Macht seit den aufgeregte­n 1960er Jahren in dieser Schärfe nicht mehr existierte­n; das Verhältnis auf beiden Seiten ist heute nüchterner geworden. Das liegt auch am politische­n Personal. Überwiegen­d sitzen, so von Alemann, im Bund und in den Ländern pragmatisc­he Typen an den Schalthebe­ln der Macht, keine visionären. Das scheinen die Wähler zu schätzen und im Wahlkampf hören zu wollen. Ein Autor könnte da eher störend, vor allem nicht allzu glaubwürdi­g wirken. Ganz so leicht sollte man es den Dichtern und Denkern hierzuland­e aber nicht machen. Weil es in Deutschlan­d durchaus eine Tradition unter den Schriftste­llern gibt, das Politische im Allgemeine­n und das Tagespolit­ische im Besonderen für ein bisschen unter

In Deutschlan­d gibt es eine Tradition unter den Schriftste­llern, das Politische für unter der eige

nen Würde zu halten

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