Rheinische Post Mettmann

Die Republik rückt nach rechts

- VON MICHAEL BRÖCKER

Der 24. September 2017 markiert das vorläufige Enddatum einer wohltemper­ierten, konsensgep­rägten Nachkriegs-Republik. Das Land rückt nach rechts. Mit unüberhörb­arem Lärm und mehr als 80 Abgeordnet­en zieht eine Partei in den Bundestag ein, die sich als Anti-Establishm­ent profiliert­e, dabei Ressentime­nts gegen Fremde schürte und den Konsens der Demokraten umdefinier­en möchte, dass die Erinnerung an den Holocaust nur eine der Scham und der Verantwort­ung für ein „Nie wieder“sein kann. Traurig!

Diese Verschiebu­ng der politisch-kulturelle­n Tektonik in der Republik wird sich die große Koalition, allen voran die Bundeskanz­lerin anheften lassen müssen. Angela Merkel, die alte und neue Kanzlerin, hat diesem Land gutgetan, es sicher, souverän und maßvoll durch Finanz- und Weltkrisen gesteuert. Sie hat aber auch das konservati­ve Bürgertum entkernt und sich selbst in zentralen Fragen, von der Energiewen­de bis zur Ehe für alle, als politische­s Chamäleon geoutet.

Mit ihrer ethisch einwandfre­ien Flüchtling­s-Entscheidu­ng im Sommer 2015 hat sie Deutschlan­d einen moralische­n Kompass gegeben. Nur hat sie es versäumt, in den Jahren danach dem Gefühl des Kontrollve­rlusts und der Unsicherhe­it in Teilen der Bevölkerun­g entgegenzu­wirken. Auch durch verdruckst­e Rhetorik und die großkoalit­ionäre Neigung, Minimalkom­promisse zu treffen, haben Union und SPD verloren. er rechte Rand erstarkt, die politische Mitte wird durch die FDP wiedererwe­ckt, die SPD verliert ihren Volksparte­i-Nimbus und steht wieder einmal vor dem Umbruch. Martin Schulz hat gekämpft und versagt. Wer sich von der Parteilink­en eine Agenda-Korrektur aufzwingen lässt, dann nicht gegen Rot-Rot-Grün Stellung bezieht, wer über die inhaltlich flexible CDU-Kanzlerin jammert, ihr aber in zentralen Themenfeld­ern recht gibt, darf sich über eine herbe Niederlage nicht wundern. Die SPD will ihren Neuanfang wohl in der Opposition organisier­en, mit Andrea Nahles an der Spitze. Vielleicht ist es die Parteilink­e, die mit einem pragmatisc­hen Kurs die SPD zurückbrin­gt.

Die Grünen können überrasche­nd ihr Ergebnis von 2013 leicht steigern und dürften deshalb eine Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen mit Selbstbewu­sstsein anstreben.

Die FDP ist neben der AfD die Gewinnerin des Abends. Der smarte und redegewand­te Vorsitzend­e Christian Lindner hat die Partei optisch entstaubt, aber auch inhaltlich mit den Themen Digitalisi­erung und Bildung gestärkt. Junge Individual­isten aus Berlin-Mitte sammeln sich bei der FDP genauso wie der grau melierte Mittelstän­dler aus Ostwestfal­en. Auch das ist eine Leistung. nd nun? Ein Bündnis aus Union, Grünen und FDP ist ein Wagnis. Wie sollen Liberale und Grüne in der Klima- und Energiefra­ge Konsens finden? Die Wunden, auch zwischen CSU und Grünen, sind tief.

Angela Merkel wird Moderatori­n eines Dauerkonfl­ikts sein, kaum Antreiberi­n. Dabei sehnen sich Konservati­ve nach CDU pur. Und: Die Republik bräuchte eigentlich einen mutigen Aufbruch. In der Sicherheit­spolitik, wo Naivität und Behördeneg­oismen den Kampf gegen den Terror von NSU bis Amri behinderte­n. In der Bildungspo­litik, wo die soziale und ethnische Herkunft für den Aufstieg immer noch wichtiger ist als Talent. 50.000 junge Menschen verlassen ohne Abschluss die Schulen; diejenigen, die in den Schulen sind, erleben antiquiert­e Lehrmethod­en.

In der Wirtschaft­spolitik dominieren Bürokratis­mus und Reformunwi­lle. Die Sozialpoli­tik wird von populistis­cher Verklemmth­eit geprägt. Kinder, die heute geboren werden, werden im Schnitt 100 Jahre alt. Warum darf man dann nicht über die Rente mit 70 reden?

Es gibt also viel zu tun. Ob Angela Merkel in ihrer vierten Amtszeit die Kraft dafür hat und das passende Bündnis, steht in den Sternen.

DU

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