Löw: „Wir müssen uns erheblich steigern“
Der Fußball-Bundestrainer lässt sich nicht durch die perfekte Bilanz in der Qualifikation blenden. Der Kampf um die WM-Tickets beginnt.
KAISERSLAUTERN Das Publikum fand, es sei Zeit für einen drei Jahre alten Schlager. „Die Nummer eins der Welt sind wir“, sangen die Fans in der Kurve. Rein statistisch ist dagegen nichts einzuwenden. Seit der Niederlage im EM-Halbfinale gegen Frankreich (0:2) am 7. Juli 2016 hat die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes kein Spiel mehr verloren. Sie gewann alle zehn WM-Qualifikationsspiele, natürlich auch das abschließende gegen Aserbaidschan. Es ging mit 5:1 an den Favoriten, obwohl Bundestrainer Joachim Löw keineswegs seine beste Elf auf den Rasen des Kaiserslauterer FritzWalter-Stadions geschickt hatte.
Die Bilanz findet auch Löw schön. Deshalb gab es vom obersten Übungsleiter „ein großes Kompliment an alle Spieler, die in der Qualifikation dabei waren. Zehn Spiele und zehn Siege, dazu ein fantastisches Torverhältnis. Das zeigt: Wir haben immer die Konzentration hochgehalten, auch gegen kleine Gegner“. Wie wenig selbstverständlich das ist, zeigt ein Blick auf die Qualifikation zur EM 2016. Da stotterte der Weltmeister durch die Begegnungen, und erst ein ziemlich zittriges 2:1 gegen den Fußballzwerg Georgien brachte ihn ins Ziel.
Die Voraussetzungen haben sich im Vergleich zu 2014 verändert. Niemand muss mehr mit dem Ruhm des Titels fertig werden und der Frage, was denn, bitte schön, jetzt noch kommen kann. Selbst die Stars in Löws Mannschaft haben nach dem Halbfinal-Aus bei der EM wieder große Ziele. Und die Konkurrenz im eigenen Lager schläft nicht.
Die Siege des B-Teams beim Confed-Cup und der U 21 bei der EM machen Druck auf die vermeintlichen Stammspieler. Ganz im Sinne des Trainers. Es erhöht für ihn die Aussicht, „dass wir die Konzentration hochhalten. Wir wollen die Spieler so vorbereiten, dass sie in einigen Monaten bereit sind für das große Ziel. Damit müssen wir frühzeitig beginnen“. Und damit auch jeder begreift, was auf dem Spiel steht, bemüht der Trainer eine seiner sprachlichen Bestleistungen. „Wir brauchen eine übermenschliche Motivation. Jeder Spieler muss eine fast übermenschliche Leistung vollbringen“, erklärte er. Es geht auch eine Nummer kleiner. Und das klingt dann so: „Wir müssen uns erheblich steigern. Denn, bei allem Respekt vor unseren Gruppengegnern: In Russland kommen ganz andere Kaliber auf uns zu.“
Im Vergleich zur absoluten Spitze hat selbst der Seriensieger Deutsch- land noch ein paar Problemfelder. Das zentrale: die AußenverteidigerPosition. Löw hat Joshua Kimmich auf der rechten Seite und Jonas Hector auf der linken. Kimmich ist ein glänzender Vorbereiter, hat aber mit der konkreten Abwehrarbeit auf dem Flügel noch erkennbare Schwierigkeiten, die gegen große Gegner ins Gewicht fallen können. Hector hat, wie der Bundestrainer zu Recht bemerkt, „bei uns große Fortschritte gemacht“. In der ersten Liga der Welt spielt er nicht.
Hinter den beiden klafft ein großes Loch. Links ist der Berliner Marvin Plattenhardt die Zweitbesetzung zu Hector. Plattenhardt mangelt es aber an Tempo. Der wesentlich dynamischere, aber technisch schwächere Dortmunder Marcel Schmelzer hat sich aus nicht erkennbaren Gründen bei Löw aus dem Fokus gespielt. Rechts sieht die Geschichte noch trüber aus. Wenn Kimmich ausfällt, würde zurzeit einer der Innenverteidiger seinen Job übernehmen. Auf längere Sicht könnte der Leipziger Lukas Klostermann eine Alternative werden, was auch Löw einräumte. Aber es ist eine sehr offe- ne Frage, ob er auf Anhieb in die internationale Klasse stürmen kann.
Stichwort Sturm. Hier hat sich die Lage zwar gebessert, seit Miroslav Klose vor drei Jahren den Abschied einreichte. Timo Werner hat vielversprechende Auftritte gehabt. Und in den Partien, in denen Wucht Eindruck macht, konnte Sandro Wagner zeigen, dass er helfen kann. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass er gegen die Weltspitze große Wirkung erzielt. Da trifft er auf ähnlich wuchtige Jungs, die jedoch besser Fußball spielen und viel schneller sind.
Trotzdem ist Wagner einer der Gewinner der Länderspiele des Jahres 2017. Das gilt noch viel mehr für Leon Goretzka. Der Schalker ist auf dem Weg, ein großer Spieler zu werden. Er kommt wie einst Günter Netzer in der Literatur gern „aus der Tiefe des Raumes“. Und er ist torgefährlich. Zwei Treffer gegen Aserbaidschan unterstrichen das. Er macht im Mittelfeld Druck auf unantastbar scheinende Stars wie Sami Khedira oder Thomas Müller.
Aber es gibt nicht nur Gewinner. Im Wettlauf um einen der drei Torhüterposten im 23-köpfigen WM- Kader ist Bernd Leno nicht zuletzt durch das Spiel in Kaiserslautern zurückgefallen. Er spielte fahrig und kassierte erneut ein haltbares Tor. Es wird Zeit, an den Kölner Timo Horn zu denken.
Und dann gibt es noch jene, die in den nächsten Monaten aufspringen können auf den WM-Zug. Marco Reus, Mario Götze, André Schürrle vielleicht. „Wir haben keinen Grund, einen Spieler abzuschreiben“, beteuerte Löw, „die Tür ist offen.“Wer noch durchgehen will, muss sich allerdings beeilen.