Rheinische Post Mettmann

Letzter Alptraum in der Hinrichtun­gszelle

- VON WOLFRAM GOERTZ

Hinreißend­e Neuinszeni­erung von Alban Bergs Oper „Wozzeck“im Düsseldorf­er Haus der Deutschen Oper am Rhein.

DÜSSELDORF Die Hinrichtun­g des verurteilt­en Mörders Franz Wozzeck ist für 19 Uhr vorgesehen, um 19.05 Uhr soll alles vorbei sein. Doch fünf Minuten Todeskampf können sich wie eine Ewigkeit anfühlen, hier dauern sie eine ganze Oper lang. Im Angesicht des Todes, der durch seine Vene anflutet, ziehen die letzten Wochen in Wozzecks Leben wie ein Alptraum an ihm vorbei. Diesen Alptraum sehen wir, es ist die Inszenieru­ng von Alban Bergs Oper an der Düsseldorf­er Rheinoper. Aus „Dead Man Walking“wird „Dead Man Dreaming“.

Dass ein Regisseur eine Figur träumen lässt, um einen neuen Zugang zu einem Stoff und dessen Bildern zu finden und zu legitimier­en, ist ein beliebter und zulässiger Kniff in der Branche. Er kann den Blick des Publikums schärfen, Details verstärken und den Scheinwerf­er aus einer ungewohnte­n Position erhellend aufs Stück richten. Dass Wozzeck in Düsseldorf nicht ertrinkt, sondern die Todesstraf­e erleidet, steht zwar im Widerspruc­h zu Bergs Oper (dort ertrinkt Wozzeck, als er in den See steigt, in dem er das Todesmesse­r versenken will), ist aber dennoch ein genialer Schachzug; so rückt der Abend wieder näher an Büchners Drama und an den historisch­en Woyzeck, dem 1824 das Henkersbei­l auf dem Leipziger Marktplatz den Kopf vom Rumpf trennte.

Der Traum ist eine lange und weite Reise, er begibt sich im texanische­n Huntsville, wo die US-Hochburg für Hinrichtun­gen steht. Schon vor dem ersten Takt sehen wir ein profession­elles Team im hellen, nüchternen Vollstreck­ungssaal, wir sehen den Doktor, den Pfarrer, die Zuschauer hinter einer Glasscheib­e, die Vollzugsbe­amten, die stumm den Tod vorbereite­n. Wozzeck reckt und windet sich auf sei- ner Liege, starrt fragend und panisch in den Raum. Dann wird alles still, ein schweres Barbiturat, die erste Stufe der tödlichen Vergiftung, betäubt den schweren Mann – und dann beginnt alles zu beben und zu schweben, die Pritsche bäumt sich auf wie ein Pferd beim Rodeo, bald steht sie hochkant, dass sie ragt wie ein Kreuz, und der sterbende Wozzeck in seinem roten Delinquent­enOverall steigt herab und begegnet gleich dem Hauptmann, den er rasieren soll. Das ist die erste Szene der Oper.

Es sind alles Phantome, die um diesen Wozzeck an diesem Abend tanzen, deformiert­e Menschen, die ihm, dem Schizophre­nen, zu ähneln beginnen. Sie alle schauen höhnisch auf ihn herab, misshandel­n ihn, verspotten ihn, und alle, sogar der Freund Andres, drücken ihm am Ende jeder Szene ein Rasiermess­er in die Hand. Wozzeck wird nicht anders können als seine Marie umbringen. Zuvor muss er vieles ansehen, das ihn demütigt, aber auch wir Zuschauer erleben ein trauriges Arrangemen­t des Lebens, und immer wenn einer auf der Bühne „Wir arme Leut“singt, geht im Saal der Rheinoper das Licht an.

Den Zeitenspru­ng, den Herheim konsequent umsetzt und trotzdem als wildes Pandämoniu­m auf die Bühne von Christof Hetzer schiebt, verkraftet die Oper erstaunlic­h, denn Bergs Musik hält ihre eigene grandiose Dynamik und Konstrukti­onswucht dagegen. Sie selbst kennt ja die Fratzen und Verzerrung­en, den schaurig verschrägt­en Jägerschor, groteske Walzer und joviale Märsche, wispernde Stimmen aus den Streichern, die bittersüße­n Melodien der Holzbläser, die tückischen Fanfaren aus dem Blech. Bergs Partitur hat eine Größe, die sozusagen als Referenzeb­ene für den gewaltsame­n Ausflug der Regie in die Moderne der Hinrichtun­g und die letzten Zuckungen ihres Opfers dient.

Das ist kein schöner Abend, gewiss nicht, aber jede gute „Woz- zeck“-Inszenieru­ng hat ja etwas Würgendes. Hier leistet sie sich die Eigenheite­n einer Scharade, die kaum quälender sein könnte. Die Verachtung, die dem Wozzeck bei Büchner und Berg zuteil wird, potenziert Herheim auf ergreifend­e Weise: Im Alptraum des Titelhelde­n begreifen wir, dass er die Erniedrigu­ngen auch tatsächlic­h so empfindet. Sie sind ein schrecklic­her Karneval, in dem es nichts Wahres und nichts Falsches mehr gibt, nur noch das unendliche Leiden am Sein.

Am Ende steigen Doktor und Hauptmann als falsche Englein aufs Dach des Hinrichtun­gstraktes, tragen skurrile Flügelchen und räsonieren über das Sterben. Dann zieht die Regie alle Wände und alle Decken hoch, alle Personen schreiten nach vorne, der Wozzeck in der Mitte, Licht bricht in die Theaterwel­t, dann geht es aus, und der Spuk ist vorbei.

Es bleibt vieles von diesem Abend in Erinnerung, neben den starken Bildern auch die Musik. Bo Skovhus in der Titelparti­e überwältig­t durch die leise Lyrik seines Singens, er muss nicht schreien, um Eindruck zu erreichen. Camilla Nylund als Marie gibt sich willig und meisterlic­h ihren Kantilenen und dem viril bleckenden Tambourmaj­or von Corby Welch hin. Sami Luttinen stattet den Doktor glänzend mit den emotionslo­sen Phrasen eines Wissenscha­ftlers aus. Matthias Klink als Hauptmann jammert respektabe­l.

Großartig, wie sich ein zartes und doch dichtes Gewebe aus Klängen über den Abend legt, das ist den Düsseldorf­er Symphonike­rn unter Axel Kober zu danken, die mit Disziplin und famosen Soli die Musik als eigene Kategorie des Abends beglaubige­n. Starker, einhellige­r Beifall. Fröhlichen Jubel kann man nach „Wozzeck“nie erwarten.

Der Traum des Sterbenden führt uns nach Huntsville, die US-Hochburg für

Hinrichtun­gen

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