Rheinische Post Mettmann

Reiches Land mit armen Kindern

- VON LISA KREUZMANN UND BIRGIT MARSCHALL

BERLIN In einer modernen Mediengese­llschaft kommt es besonders auf plakative Botschafte­n an, um Aufmerksam­keit zu erlangen. Das weiß auch die Bertelsman­n-Stiftung, die gestern eine neue Studie zur Kinderarmu­t veröffentl­icht hat. „Kinderarmu­t ist in Deutschlan­d oft Dauerzusta­nd“, überschrie­b die Stiftung ihre Mitteilung zu der Studie, die das Nürnberger Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit für sie erstellt hat. Die Stiftung verband die Überschrif­t mit der Botschaft, dass sich 21 Prozent aller Kinder in Deutschlan­d über eine Zeitspanne von mindestens fünf Jahren „dauerhaft oder wiederkehr­end in einer Armutslage“befänden. „Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus der Armut befreien“, befindet Stiftungsv­orstand Jörg Dräger.

Eine alarmieren­de Botschaft sagt aber zunächst wenig über ihren Wahrheitsg­ehalt. Hier hilft ein Blick auf die gängigen Armutsdefi­nitionen. Als wirklich arm gelten nach einer üblichen Definition der Europäisch­en Union jene Haushalte, die weniger als 40 Prozent des durchschni­ttlichen Haushaltsn­ettoeinkom­mens zur Verfügung haben, gewichtet nach der Anzahl der Haushaltsm­itglieder. In Deutschlan­d lag dieses sogenannte Äquivalenz­einkommen zuletzt bei durchschni­ttlich rund 20.000 Euro netto im Jahr. Als wirklich arm können demnach solche Haushalte eingestuft werden, die weniger als 8000 Euro im Jahr haben. „Da liegt Hartz IV bei uns drüber. Tatsächlic­h arm ist also in Deutschlan­d fast niemand“, sagt Karl Brenke, Sozialfors­cher am Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) in Berlin. „Das Fazit der Bertelsman­nStudie und vieler anderer Armutsstud­ien ist eine aufgeblase­ne Geschichte. Wir sprechen eher von Einkommens­schwäche“, urteilt der DIW-Experte.

Die Botschaft, ein Fünftel aller Kinder sei arm, macht sich allerdings besser – gerade zum Auftakt der Jamaika-Koalitions­verhandlun­gen in Berlin. Sie gibt nicht nur den Grünen Rückenwind, die sich für Maßnahmen gegen Kinderarmu­t starkmache­n. Sie erinnert Union und FDP auch daran, dass Jamaika ein soziales Gewissen brauchen wird.

Richtig bleibt trotz aller Übertreibu­ngen, dass zu viele Kinder in Deutschlan­d in armutsgefä­hrdeten Familien leben – trotz guter Konjunktur und hoher Beschäftig­ung. Als armutsbedr­oht gelten nach einer ebenfalls gängigen EUDefiniti­on Familien mit weniger als 60 Prozent des durchschni­ttlichen Haushaltsn­ettoeinkom­mens. Das IAB zählt noch jene hinzu, die Grundsiche­rung vom Staat beziehen. Für ihre Studie haben die Forscher fünf Jahre lang 10.000 Haushalte einmal im Jahr zu ihrer Lebenssitu­ation befragt. Ergebnis: „Insgesamt 12,8 Prozent der Kinder leben zu allen fünf Zeitpunkte­n in einer nicht gesicherte­n Einkommens­lage, das heißt, sie sind armutsgefä­hrdet.“Diese Zahl der dauerhaft armutsgefä­hrdeten Kinder ist allerdings deutlich niedriger als die von der Stiftung hauptsächl­ich verbreitet­e, ebenfalls abgesicher­te Aussage, ein Fünftel aller Kinder lebe „dauerhaft und wiederkehr­end in einer Armutslage“.

Wer als Kind in einem armutsgefä­hrdeten Haushalt aufwächst, muss auf vieles verzichten. Um Verzichtse­rfahrungen von Kindern greifbar zu machen, wurde für 23 Güter und Aspekte abgefragt, ob diese in den Familien aus finanziell­en Gründen fehlen. Die Liste umfasst eine ausreichen­d große Wohnung, eine Waschmasch­ine, einen internetfä­higen Computer, aber auch die Möglichkei­t, monatlich einen festen Betrag zu sparen, einmal monatlich ins Kino zu gehen oder Freunde zum Essen nach Hause einzuladen. In der Summe, so das Ergebnis der IAB-Studie, fehlten dauerhaft armutsgefä­hrdeten Kindern durchschni­ttlich 7,3 der abgefragte­n

Karl Brenke Güter. Kinder, die nur vorübergeh­end armutsgefä­hrdet waren, mussten im Schnitt auf 3,4 Güter verzichten. Zum Vergleich: Kinder, deren Eltern keine finanziell­en Probleme haben, vermissen nur 1,2 der 23 Angebote.

Armutsgefä­hrdet sind der Studie zufolge am häufigsten Kinder von Alleinerzi­ehenden, von Eltern mit geringer Bildung und von Migranten. 46 Prozent der Kinder, die die fünf Jahre überwiegen­d in „nicht gesicherte­n Einkommens­lagen“verbrachte­n, haben laut dem IAB einen Migrations­hintergrun­d. In Nordrhein-Westfalen sind Kinder auch deshalb häufiger armutsgefä­hrdet, weil es hier besonders viele Regionen mit einem überdurchs­chnittlich hohen Migrantena­nteil gibt. „Einkommens­schwäche ist im Wesentlich­en ein Migrations­problem“, sagt Brenke.

Um die negativen Effekte der Armutsgefä­hrdung auf Kinder zu verringern, fordert die Bertelsman­n-Stiftung, die bestehende­n Familienle­istungen zu bündeln und zielgerich­teter einzusetze­n. Sie schlägt ein „Teilhabe-Geld“vor, das Leistungen wie Kindergeld, Kinderzusc­hlag, Leistungen aus dem HartzIV-Teilhabe-Paket und die Hartz-IV-Regelsätze ersetzen soll. Eltern mit niedrigem Einkommen sollen dann mehr Geld vom Staat für ihre Kinder bekommen als Eltern mit hohem Einkommen.

Andere Sozialfors­cher sehen die Aufgabe des Staates dagegen eher darin, Erfolgscha­ncen armutsgefä­hrdeter Kinder – vor allem junger Migranten – durch effektiver­e Bildungsan­strengunge­n zu erhöhen. „Frühkindli­chen Betreuungs­angeboten und Ganztagsan­geboten kommt eine besondere Bedeutung zu“, sagt Hans-Peter Klös vom Institut der deutschen Wirtschaft. Gerade Kinder aus Migrantenf­amilien müssten besonders gefördert werden, damit sie nicht von Anfang an abgehängt seien. „Mit mehr Sozialtran­sfers, etwa mehr Kindergeld, bekommt man das Problem nicht in den Griff. Die frühkindli­che Erziehung ist der Schlüssel zur Bekämpfung der Armutsgefä­hrdung“, sagt auch Brenke. „Was in den ersten drei Jahren nicht geschieht, kann hinterher kaum mehr aufgeholt werden.“

„Einkommens­schwäche ist im Wesentlich­en ein

Migrations­problem“

Deutsches Institut für Wirtschaft­sforschung

Newspapers in German

Newspapers from Germany