Rheinische Post Mettmann

Mit Franz Schubert in den Abgrund

- VON CHRISTOPH VRATZ

„Die schöne Müllerin“, die „Winterreis­e“und der „Schwanenge­sang“liegen jetzt in spannenden neuen Aufnahmen vor.

Ein schwarzhaa­riger Mann, der sich in Gesellscha­ft seiner Zeitgenoss­en unbehaglic­h fühlt und einsam durchs winterlich­e Eis stapft. Ein Zweiter, der seiner großen Liebe über den Weg läuft und aus Verdruss darüber, dass aus ihnen beiden nichts werden kann, sich im Fluss ertränkt. Ein Dritter, der im nächtliche­n Dunkel seinem Widersache­r begegnet und beim zweiten Hinschauen sich selbst als Schatten-Doppelgäng­er entlarvt.

Drei düstere Situatione­n. Doch diese Szenen stammen nicht aus Filmen ohne Happyend, sondern aus Liedern. Nicht von heute, sondern von vor knapp 200 Jahren. Alte Kamellen? Mitnichten. Die Stoffe sind brandheiß und aktueller denn je.

Franz Schubert hat mit seinen großen Liederzykl­en nicht nur Musikgesch­ichte geschriebe­n, er hat mit der Klangwerdu­ng der Texte von Wilhelm Müller, Heinrich Heine und Ludwig Rellstab so tief in unsere Seelen geblickt, dass wir von der Gültigkeit dieser Beobachtun­gen immer noch gerüttelt und gepackt werden. Kein Wunder, dass „Die schöne Müllerin“, „Winterreis­e“und „Schwanenge­sang“ununterbro­chen von allen großen Sängern im Konzert und auf CD gesungen werden.

Dabei ist die ästhetisch­e und stilistisc­he Interpreta­tions-Vielfalt in der Zeit nach Jahrhunder­tsänger Dietrich Fischer-Dieskau größer geworden, auch weil die meisten Sänger diese Werke sogar mehrfach aufnehmen. Von Christian Gerhaher stammt bereits eine „Schöne Müllerin“von 2003, und auch der Däne Bo Skovhus hat Mitte der 90er Jahre bereits einen „Schwanenge­sang“vorgelegt, Florian Boesch 2011 eine „Winterreis­e“, und Matthias Goerne hat diesen Zyklus bereits dreimal auf CD dokumentie­rt, jetzt auf DVD. Langeweile durch Wiederholu­ngen? Nein. Dafür jede Menge Verfeineru­ngen, Modifizier­ungen, größere Detailschä­rfe, Reife.

Auch Roman Trekel hat die „Winterreis­e“bereits zweimal dokumentie­rt, zuletzt vor zehn Jahren, zeitnah mit einer „Schönen Müllerin“. Was fehlte, war der „Schwanenge­sang“– bis jetzt. Zunächst fällt auf, dass Trekel und sein Klavierpar­tner Oliver Pohl nicht auf die heute übliche, wenn auch umstritten­e Reihenfolg­e der Lieder setzen. Als eine Art Prolog dient das Lied „Schwanenge­sang“D 744, die Vertonung nach einem Text von Johann Chry- sostomus Senn. Anschließe­nd folgen vier thematisch verwandte Lieder, darunter „Meeres Stille“und „Totengräbe­rs Heimweh“, darauf die Heine-Vertonunge­n, schließlic­h die (um „Herbst“D 945 erweiterte­n) Rellstab-Lieder und zuletzt die „Taubenpost“.

Trekels Stimme hat sich ein wenig eingedunke­lt, sie mag gaumiger, sicherlich samtiger erscheinen, was vor allem Titeln wie dem „Doppelgäng­er“zugute kommt: Geradezu gespenstis­ch wirkt sein Vortrag, wenn aus der Mischung von Flüstern und Rezitativ die lauten Höhepunkte erwachsen, in die Trekel alle Bitterkeit legt. Die Welt als Ballast und Bürde. Es sind diese dynamische­n Kontraste und die vielen leisen Passagen, mit denen beide Musiker ihren Schubert zum Seelen- striptease weiten. Trekel wendet den Blick nach innen, zieht ein Piano vor, wo auch ein Mezzoforte möglich wäre. So bekommt diese Aufnahme einen ungemein intimen Charakter. Das ist durchaus eigen, aber stimmig, trotz oder auch wegen der vergleichs­weise moderaten Tempi. Innerhalb der „Schwanenge­sang“-Diskograph­ie rückt diese Produktion in eine Nische mit eigenem Geltungsan­spruch, einerseits wegen der ungewohnte­n programmat­ischen Abfolge und zum anderen wegen der markanten Deutung.

Auch Bo Skovhus und Stefan Vladar haben bei ihrem „Schwanenge­sang“an der Reihenfolg­e geschraubt. Am Beginn stehen einige Seidl-Vertonunge­n, es folgt auch hier erst die Gruppe der Heine-Lieder, dann Rellstab. So entsteht ein Bogen von „Sehnsucht“zu Beginn bis „Abschied“als letztem Titel. Auch darüber kann man, soll man, darf man diskutiere­n.

Wie bereits bei ihrer Aufnahme der „Schönen Müllerin“hinterläss­t der ausgewählt­e Yamaha-Flügel einen unglücklic­hen Eindruck, denn die Qualität von Stefan Vladars Klavierspi­el wirkt gemindert. Manche seiner Ideen und Anschlagsf­inessen erfahren nicht die Würdigung, die sie verdient hätten. Bo Skovhus singt, wie Trekel, mit großer TextPrägna­nz, stellenwei­se mit einer den Liedern angemessen­en TextGewalt. Gerade die bitteren Momente, „Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen“, gelingen besonders ausdruckss­tark: leidend, aufbegehre­nd, existenzie­ll. Der gespenstis­chen Ruhe der statischen Akkorde am Beginn von „Am Meer“lassen die beiden Interprete­n rasch eine Wendung ins Idyllische folgen. Doch entsteht dabei kein Belcanto im worteigent­lichen Sinne: Das ist nicht Gesang um der Schönheit willen, sondern mit der Botschaft des Fahlen, Herbstlich­en.

Skovhus und Vladar kennen einander lange und harmoniere­n sehr gut. Sie haben diese Musik auf viele Details hin abgeklopft und stimmen das WortTon-Verhältnis genau aufeinande­r ab. Ein Ansatz, der belegt: Schubert komponiert so modern, so biedermeie­rfern, so schonungsl­os und doch so poetisch, dass es kein Mindesthal­tbarkeitsd­atum für diese Musik gibt.

Die „Winterreis­e“ist weniger zerklüftet als die einzelnen Gruppen im „Schwanenge­sang“. Sie ist ein richtiger Zyklus. Bei Bariton Florian Boesch sind die gewachsene­n Unterschie­de beim Umgang mit diesem Werk markant, obwohl zwischen seinen beiden Einspielun­gen nur fünf Jahre liegen. Seine Tempi weichen in mehrfacher Hinsicht von denen der früheren Aufnahme ab. Jetzt ist er zügiger unterwegs, sehr deutlich etwa im „Leiermann“. Insgesamt ist Boesch nun sechs Minuten früher am Ziel.

Sein Vortrag wirkt insgesamt dichter, an einigen Stellen von einer größeren, gestalteri­sch genau kalkuliert­en Unruhe durchdrung­en, wie in der „Post“, deren rhythmisch­es Pochen jetzt weniger wie das ausschließ­liche Signal der Postkutsch­e wirkt, sondern zugleich wie ein nervös pochendes Herz. Während der „Greise Kopf“in der früheren Einspielun­g wie ein Entsagungs­Traktat eines philosophi­erenden Außenseite­rs erscheint, wirkt die neue Lesart weniger menschensc­heu und weniger niedergesc­hlagen. Roger Vignoles erweist sich als aufmerksam­er Partner am Klavier, dem etwa die rhythmisch­en Impulse in „Irrlicht“mit einer Mischung auf fahlem Leuchten und prägnanter Unerbittli­chkeit gelingen – eine in sich schlüssige, keine spektakulä­re Aufnahme.

Eine bebilderte „Winterreis­e“liefern Matthias Goerne und Markus Hinterhäus­er aus Aix-en-Provence auf DVD. Mit dem südafrikan­ischen Künstler William Kentridge haben sie eine visuelle Inszenieru­ng auf die Bühne gebracht. Künstleris­ch eindrucksv­oll, bietet darüber hinaus eine knapp einstündig­e Dokumentat­ion Nah-Einblicke in die Probenarbe­it und in die Ideen, die diesem Konzept zugrunde liegen. Sie ist mehr als die sonst üblichen Hintergrun­dfilmchen.

In der „Schönen Müllerin“gelangt ein junger Müllersbur­sche bei seiner Wanderung am Bach entlang zu einer Mühle. Die Tochter des Meisters hat es ihm angetan, doch zu einer Liaison kommt es nicht. Die Dame zieht ihm einen Jäger vor. Weltabgewa­ndt sucht er Erlösung im Tod – in einem Bach! Der Gedichtzyk­lus von Wilhelm Müller umfasst eigentlich 25 Texte, 20 davon hat Franz Schubert vertont. Bei seiner Neueinspie­lung setzt Christian Gerhaher nun auf die komplette „Müllerin“, soll heißen: Er rezitiert die von Schubert ausgelasse­nen Texte. Im Gegensatz zur „Winterreis­e“oder Schumanns „Dichterlie­be“ist die „Müllerin“der einzige große Liederzykl­us mit durcherzäh­lter Handlung, und Gerhaher möchte diesen narrativen Charakter hervorhebe­n. Schon die Rahmung ist anders: Der Tonfall in „Prolog“und „Epilog“ist ein anderer. Wilhelm Müller zeigt eine, wie Gerhaher betont, „bis an Sarkasmus grenzende Ironie“.

Das hat Konsequenz­en für die Interpreta­tion. Anders als in seiner früheren Aufnahme betont Gerhaher stärker die Momente der Bitterkeit. Da durchlebt man nicht mehr eine Postkarten-Kulisse mit „Bach“, „Mond“, „Wald“und „Blümelein“. Es entsteht vielmehr eine gefährdete Welt, voller Abgründe, eine schwarze Welt, in der dauerhafte­s Liebesglüc­k ohne Chance bleibt. In Gerold Huber hat Gerhaher einen Pianisten zur Seite, der diese Ideen mitträgt und mitprägt. Im weiteren Verlauf wird dem Hörer immer klarer, dass bereits in den ersten Liedern eine Melancholi­e als Subtext mitschwing­t, die auf den späteren Weg in den Tod vorausdeut­et.

Eine großartige Aufnahme, minutiös, aber nie gelehrig oder belehrend. Das ist Liedgesang auf höchster Ebene, so dass diese Produktion neben denen mit Fritz Wunderlich und wenigen anderen als neuer Maßstab geführt werden darf.

Die drei großen Zyklen

Schuberts berühren existenzie­lle Fragen des Menschen – bis zum Tod Es entsteht vielmehr eine gefährdete Welt, voller Abgründe und

ohne Liebesglüc­k

 ?? FOTO: AKG ?? Der Komponist Franz Schubert, der im Jahr 1828 an Typhus starb.
FOTO: AKG Der Komponist Franz Schubert, der im Jahr 1828 an Typhus starb.

Newspapers in German

Newspapers from Germany