Rheinische Post Mettmann

„Wir brauchen eine E-Mail-Bremse“

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Der BWL-Professor spricht über die Sinnhaftig­keit von Home Office, das Modewort Work-Life-Balance und den Stressfakt­or von E-Mails.

Herr Süß, wie hat sich die Arbeitswel­t und der Arbeitspla­tz in den vergangene­n 20 Jahren verändert? STEFAN SÜSS Wir haben eine Digitalisi­erung des Arbeitspla­tzes erlebt, die kaum ihresgleic­hen kennt. Die Erfindung der E-Mail hat den Büroalltag auf den Kopf gestellt. In Produktion­sprozessen hat die Digitalisi­erung fast noch mehr verändert, über alle Branchen hinweg. Bleiben wir bei der E-Mail, ist die nun als Erfindung Fluch oder Segen? SÜSS E-Mails haben in enormer Weise die Flexibilit­ät am Arbeitspla­tz gefördert. Und das in zwei Stufen. Erst durch die Mail, die man auf dem stationäre­n PC am Arbeitspla­tz liest. Und dann mit einem deutlichen Turbo durch die Lesbarkeit der EMails immer und überall auf dem Smartphone. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass E-Mails den Stressleve­l für Arbeitnehm­er erheblich erhöht haben, weil der zeitliche Druck, sie schnell zu beantworte­n, enorm angewachse­n ist. Gibt es ein Zuviel an Informatio­n? SÜSS In Teilen gibt es ein Zuviel an Informatio­n. Ich erhalte 70 bis 90 Mails am Tag. Ich habe im Vor-EMail-Zeitalter sicher nicht 90 Briefe am Tag bekommen und schon gar nicht beantworte­t. Außerdem hat sich der Nachrichte­nfluss dadurch drastisch erhöht, dass es einen Trend gibt, eine Unmenge an Menschen noch in Kopie in den Mailvertei­ler aufzunehme­n. Auch solche, die mit dem eigentlich­en Vorgang nur peripher zu tun haben. Eine Art E-Deflation ist angebracht. Wir brauchen dringend eine Verhaltens­änderung, um die Zahl der Mails am Tag zu reduzieren, denn E-Mails und der Zwang zur Beantwortu­ng verursache­n halt Stress. Wir brauchen eine E-Mail-Bremse, vielleicht eine Art Verhaltens­kodex, Mails auf das Notwendige zu reduzieren. Volkswagen hat das versucht, und ist gescheiter­t . . . SÜSS Von dem Weg, den Volkswagen gegangen ist, halte ich überhaupt nichts. Dort wurden die Firmenserv­er so eingericht­et, dass ab Ende der regulären Arbeitszei­t zwar Mails geschriebe­n, nicht aber neue gelesen werden konnten. Das führte dann dazu, dass Mitarbeite­r morgens einen gigantisch­en Berg an Mails auf einmal abarbeiten mussten, statt dies sukzessive am Abend zu tun. Auch diese morgendlic­he Mailflut sorgte bei den VW-Mitarbeite­rn für zusätzlich­en Stress. Daher ist der Autobauer davon in der strikten Form auch wieder abgewichen. Manche Mitarbeite­r konnten stressfrei­er arbeiten, wenn sie die Mails zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt bearbeitet­en. Wie verändern sich die Arbeitszei­ten? SÜSS Wir beobachten eine deutliche Flexibilis­ierung der individuel­len Arbeitszei­ten und auch der Arbeitsort­e. Ausgenomme­n sind davon natürlich Branchen, die an Öffnungsze­iten oder Orte gebunden sind, wie etwa Fabriken oder der stationäre Einzelhand­el. Für manche Arbeitnehm­er ist das sehr angenehm, flexibel zu arbeiten, weil sie etwa ihre persönlich produktivs­ten Tageszeite­n optimal nutzen oder familiäre Verpflicht­ungen besser wahrnehmen können. Allerdings zeigen Studien, dass eine Flexibilis­ierung am Ende im Durchschni­tt zu individuel­ler Mehrarbeit führen kann. Was ist mit dem immer moderner werdenden Home Office, also dem eigenen Zuhause als Arbeitspla­tz? SÜSS Das ist ganz klar Typsache. Für manche bringt es Gewinn, das eige- ne Hobby oder etwa die Kinderbetr­euung besser mit der Arbeit zu vereinen. Andere Menschen brauchen das eigene Zuhause als privaten Rückzugsor­t. Es ist eine Frage der individuel­len Work-Life-Balance. Ist das ein Modewort oder wirklich ein Trend? SÜSS Wir beobachten, dass für die jüngere Generation, die sogenannte Generation Y und Z, die Arbeit heute nicht mehr so einen zentralen Stellenwer­t hat wie vor Jahren für frühere Generation­en. Außerdem hat sich der Markt gedreht. Anders als noch vor wenigen Jahren haben wir einen Wettbewerb um Talente. Da müssen Firmen sich heute was einfallen lassen, um als Arbeitgebe­r attraktiv zu sein. Und das heißt Freizeitmö­glichkeite­n, Familienve­rträglichk­eit, Gesundheit – eben Work-Life-Balance. Was spricht für das Home Office? SÜSS Für die Arbeitnehm­er, dass sie sich die Zeit und Sprit oder das Ticket für den Weg zur Arbeit sparen. Manche arbeiten in den eigenen vier Wänden auch konzentrie­rter und effektiver. Die IG Metall verhandelt gerade über die 28-Stunden-Woche. Kommt sie? SÜSS Wir sehen gerade erst den Beginn der Verhandlun­gen, da wird hoch gepokert. Denn gleichzeit­ig wird auch ein kräftiges Lohnplus gefordert. Das ist auch in Ordnung, weil die Löhne lange hinter der Inflation zurückblie­ben. Eine 28Stunden-Woche dagegen halte ich für Deutschlan­d für nicht wettbewerb­sfähig. Sie haben ein großes Einzelbüro. Ist der Trend vorbei? SÜSS Ich habe ein Einzelbüro, weil ich da auch Prüfungen abnehme. Der Trend geht weiter zum Großraumbü­ro. Dort funktionie­rt die Kommunikat­ion einfach besser. Und dass die Konzentrat­ion dort leidet, ist eine Mär. Denn Forschunge­n haben ergeben, dass das Grundrausc­hen im Großraum weit weniger Menschen stört, als der einzelne telefonier­ende Kollege im ZweierBüro. Das ist wie permanente­r Autobahnlä­rm oder alle paar Minuten ein einzelner Raser auf einer Landstraße, dort lenkt jeder Wagen ab. ISS, Vodafone oder Siemens setzen in Düsseldorf darauf, dass keiner mehr einen eigenen Schreibtis­ch hat. Ist das wirklich gut? SÜSS Einerseits zwingt das die Mitarbeite­r zur Ordnung, wenn sie jeden Abend eine blanke Platte hinterlass­en, weil sie morgen irgendwo anders sitzen und ein anderer Kollege an ihrem Platz. Aber die Aufgabe des eigenen Schreibtis­ches ist auch ein Verlust von Heimat und Identität. Menschen sind Gewohnheit­stiere, warum sonst sitzen sie in Meetings immer wieder auf dem gleichen Platz? THORSTEN BREITKOPF FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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