Rheinische Post Mettmann

Neue Details zur Loveparade-Katastroph­e

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Ein neues Gutachten kommt zu dem Schluss, dass es schwerwieg­ende Planungsfe­hler im Vorfeld der Loveparade gab. Die Anlagen, die den Besucherst­rom regelten, waren offenbar zu eng und falsch positionie­rt.

DUISBURG Zur Katastroph­e auf der Loveparade in Duisburg vor sieben Jahren ist es möglicherw­eise auch wegen einer lang anhaltende­n Kapazitäts­überschrei­tung der Anlagen und des Veranstalt­ungsraumes gekommen. Darüber hinaus seien die im Vorfeld geplanten Maßnahmen, um mögliche solcher Überbelast­ungen zu verhindern, nicht geeignet gewesen. Davon sei, so die vorläufige­n Erkenntnis­se, die Hauptgefäh­rdung für die Besucher ausgegange­n, heißt es in dem 2000 Seiten umfassende­n Gutachten, das unserer Redaktion vorliegt.

Die Expertise untersucht, welche Fehler die Verantwort­lichen bei der Planung und Genehmigun­g im Vorfeld des Festivals mit 21 Toten und mehr als 650 Verletzten gemacht haben. Für das Gutachten, das vom Sicherheit­sexperten Jürgen Gerlach erstellt wurde, wurden Tausende Aktenseite­n und rund 300 Stunden Videomater­ial gesichtet – und das innerhalb eines Jahres von Juli 2016 bis September 2017. Das Gutachten wurde erst vor zwei Tagen fertiggest­ellt. Nach Einschätzu­ng der Staatsanwa­ltschaft stützt Gerlach die Anklage gegen sechs Mitarbeite­r der Stadt Duisburg und vier Mitarbeite­r des Veranstalt­ers. Sie müssen sich unter anderem wegen fahrlässi- ger Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung verantwort­en. Der Prozess beginnt am 8. Dezember. Nicht auf der Anklageban­k sitzen der damalige Duisburger Oberbürger­meister Adolf Sauerland und Veranstalt­er-Chef Rainer Schaller.

Das Gutachten beschreibt den Weg in die Katastroph­e: 11 Uhr Die Loveparade soll beginnen. Die Eröffnung muss aber wegen nicht fertig gewordener Herrichtun­gsarbeiten auf dem Veranstalt­ungsgeländ­e um eine Stunde verschoben werden. 14.15 Uhr Im Zugangsber­eich, an den sogenannte­n Vereinzelu­ngsanlagen (VEA), kommt es erstmals zu Drucksitua­tionen. Wegen des Andrangs bilden sich Rückstaus. Infolgedes­sen werden die Vereinzelu­ngsanlagen kurzzeitig geschlosse­n, später aber wieder geöffnet. 15.30 Uhr Der Rückstau ist mittlerwei­le so gewaltig angewachse­n, dass Absperrzäu­ne umgeworfen und überrannt werden. 15.50 Uhr Damit nicht noch mehr Besucher Richtung Gelände strömen, bildet die Polizei im Karl-LehrTunnel zwei Polizeiket­ten. 16 Uhr Eine dritte Polizeiket­te wird gebildet. 16.15 Uhr Nach einer Schlägerei im Tunnel muss eine Polizeiket­te aufgelöst werden. Wenig später werden auch die anderen aufgelöst. 16.29 Uhr Die Menschenma­ssen blockieren sich. Besucher drängen auf die schmale Treppe im Eingangsbe­reich zu, andere klettern auf Lichtmaste­n. 16.37 Uhr Starke Wellenbewe­gungen in der Masse. 16.49 Uhr Personen fallen nahe der schmalen Treppe zu Boden. Weitere Personen stürzen durch die Wellenbewe­gungen, verkeilen sich ineinander und liegen in mehreren Schichten übereinand­er. 17.02 Uhr Erste Todesfälle

Ein wichtige Rolle spielen in dem Gutachten die Vereinzelu­ngsanlagen, die an zentraler Stelle und an neuralgisc­hen Punkten des Veranstalt­ungsraumes maßgeblich den Besucherfl­uss lenken sollten. Diese VEAs seien allerdings unangemess­en aufgebaut worden. Besonders bei der Bemessung der Engstellen im Zugangs- und Abflussber­eich der Besucherst­röme seien diesbezügl­ich Planungsfe­hler begangen worden. Aus Sicht des Gutachters sei es nicht nachvollzi­ehbar, dass die Zufluss-Vereinzelu­ngsanlagen West (Engstelle mit einer Breite von 6,3 Metern) und Ost (2,7 Metern) zum Teil sehr unterschie­dlich ausgefalle­n und nicht breit genug gewesen wären. Dabei sei es doch zu erwarten gewesen, dass die Besucher von beiden Seiten aufs Veranstalt­ungsgeländ­e strömen würden. Das Gutachten kommt zu dem Schluss: Die Vereinzelu­ngsanalgen waren nicht auf die erwarteten Besucherme­ngen ausgericht­et.

Auch der Karl-Lehr-Tunnel, durch den die Menschen zum Festivalei­ngang gehen mussten, wird in dem Gutachten thematisie­rt. Der Weg durch die enge Röhre war der einzige Ab- und Zugang zum Gelände. Das sei ein Gefahrenpu­nkt gewesen. Man habe die Gefahr von Stockungen und Rückstaus im Tunnelbere­ich möglicherw­eise bei den Planungen unterschät­zt. Zwar habe man erkannt, dass es zu Stockungen im Tunnel kommen könnte, daraus aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Stockungen durch temporäre Schließung­en der Vereinzelu­ngs- anlagen und eine sogenannte Tunnelpatr­ouille zu verhindern, wie es das Konzept für den Ernstfall offenbar vorsah, hätten Stauungen laut Expertise nicht vermieden. Der Einsatz einer Tunnelpatr­ouille (geplant waren dafür 16 Ordner) zur Gefahrenab­wehr setzt allerdings voraus, dass der Tunnel zu keinem Zeitpunkt überfüllt sein darf – sonst kämen die Kräfte gar nicht rein. Außer Acht gelassen wurde im Sicherheit­skonzept für den Tunnel offenbar auch das Risiko, dass es beim abfließend­en Besucherst­rom, der ja auch durch den Tunnel musste, zu Staus hätte kommen können.

Bis heute ist nicht geklärt, wie viele Besucher auf der Loveparade in Duisburg waren. Möglicherw­eise waren es deutlich weniger, als von den Veranstalt­ern erwartet worden waren. Der Analyse zufolge sollen bis spätestens 17.10 Uhr „mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit“maximal nur 118.000 Gäste auf der Eventfläch­e gewesen sein. Im Vorfeld hatte eine zentrale Prognose mit rund 290.000 Besuchern zu diesem Zeitpunkt kalkuliert. Die Abschätzun­g der Besucherza­hlen war ein zentraler Bestandtei­l der Planungen im Vorfeld. Ein Insider sagt: „An all den Punkten sieht man, dass die Loveparade fehlerhaft geplant worden ist – und dafür mussten Menschen ihr Leben lassen.“

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FOTO: DPA Massenpani­k auf der Loveparade 2010 in Duisburg: Viele Besucher versuchten, sich über die schmale Treppe zu retten.

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