Rheinische Post Mettmann

Wenn Kinder sich das Leben nehmen

- VON LAURA HARLOS UND SASKIA NOTHOFER

Vor einer Woche hat ein Neunjährig­er Suizid begangen, das bestätigte die Staatsanwa­ltschaft. Kindersuiz­ide sind selten.

HATTINGEN Der Tod eines Jungen sorgt bundesweit für Entsetzen: Denn ein Neunjährig­er aus Hattingen in Westfalen soll sich selbst das Leben genommen haben. Die Hintergrün­de des eine Woche zurücklieg­enden Vorfalls seien jedoch noch nicht bekannt, sagte Staatsanwä­ltin Julia Schweers-Nassif der Funke-Mediengrup­pe. Es gebe derzeit aber keine Hinweise auf ein Fremdversc­hulden. Familie und Umfeld des Jungen werden befragt. Der bisherige Ermittlung­sstand deute aber auf Suizid hin. „Die Untersuchu­ngen laufen noch“, sagte Schweers-Nassif.

Laut Statistisc­hem Bundesamt setzen etwa zwanzig Kinder und Jugendlich­e zwischen zehn und 15 Jahren ihrem Leben pro Jahr willentlic­h ein Ende – doppelt so viele Mädchen wie Jungen. Mit Beginn der Pubertät steigen die Zahlen rasant an, auf etwa 200 im Jahr: Bei den 15- bis 20-Jährigen ist Selbstmord die zweithäufi­gste Todesursac­he – hinter Unfällen und vor Krebs. Das geht aus einer Studie der Weltgesund­heitsorgan­isation hervor. Suizide von Kindern unter zehn Jahren, wie den aktuellen Fall aus Hattingen, erfasst das Bundesamt nicht. „Aus Geheimhalt­ungsgründe­n, zum Schutz der Persönlich­keit, kommen diese Zahlen nicht in die Statistik“, erklärt ein Sprecher. Laut der „Ärztezeitu­ng“liegen die jährlichen Suizidrate­n bei den Fünf- bis 14-Jährigen weltweit jedoch unter einem Prozent.

Das Statistisc­he Landesamt in Düsseldorf erfasst die Anzahl der Suizide verschiede­ner Altersgrup­pen in NRW. Explizit tauchen die unter Zehnjährig­en auch dort nicht auf. 2015 nahmen sich allerdings drei Kinder beziehungs­weise Jugendlich­e unter 15 Jahren das Leben, 2014 gab es keinen solchen Fall, 2013 waren es auch drei.

„Neunjährig­e zählen in die Gruppe der Präpubertä­ren (sechs bis zehn Jahre). Ein kritisches Alter, in dem Kinder sehr schnell verzweifel­n können“, sagt der Kinderpsyc­hotherapeu­th Ralph Schliewenz. „Sie wissen genau, was sie können und was nicht. Ich habe schon oft Kinder gesehen, die niedergesc­hlagen sind.“Auch habe er schon Kinder sagen hören: „Ich möchte nicht mehr leben.“

Depressive­s Verhalten bei Kindern in der präpubertä­ren Phase ist laut Schliewenz keine Seltenheit. Ein Suizid wie im Fall aus Hattingen ist aber sehr ungewöhnli­ch. „Kinder haben in diesem Alter noch häufig Angst vor dem Tod“, sagt der Experte. Er vermutet bei dem Neunjährig­en aus Hattingen daher eine parasuizid­iale Handlung. „Der Junge wollte sich vermutlich gar nicht umbringen, sondern mit der Strangulat­ion vor allem auf sich aufmerksam machen“, so Schliewenz. Es handle sich also um einen sogenannte­n appelative­n Suizid.

Auch für Neunjährig­e sei es in der heutigen Zeit kein Problem mehr, an Ideen für Selbstmord zu kommen. „Heute ist schließlic­h alles öffentlich im Netz verfügbar“, so der Kinderpsyc­hotherapeu­th. Er rät daher dazu, das Thema Tod und Sterben in der Familie, vor allem vor den Kindern, nicht zu verschweig­en: „Tod und Sterben sollten zuhause keine Tabuthemen sein. Eltern sol- len mit ihren Kindern sprechen.“Kindern, mit denen er in Kontakt kommt, und denen es psychisch nicht gut geht, rät der Psychother­apeut, sich einen Erwachsene­n zu suchen, dem sie vertrauen. Wobei es sich nicht zwangsläuf­ig um Mutter oder Vater des oder der Betroffene­n handeln muss.

Im Fall aus Hattingen bekamen sowohl Angehörige als auch Helfer psychische Unterstütz­ung. Drei Mitarbeite­r der Notfallsee­lsorge kümmerten sich um die Familie des Jungen und um die Einsatzkrä­fte vor Ort. Sehr früh habe auch die Schule vom Tod des Jungen erfahren, sagte der leitende Notfallsee­lsorger Moritz Hafer. „Das ist wichtig, denn wir versuchen zu vermeiden, dass Gerüchte aufkommen“, betont Hafer. Auch Mitschüler und Lehrer wurden seelsorger­isch betreut. Der Schulbetri­eb lief nach dem Vorfall vor einer Woche bis zu Ferienbegi­nn aber regulär weiter. „Wir wollten vermeiden, dass eine Schule geschlosse­n wird. Die Normalität muss im Mittelpunk­t stehen. Wir zeigen Perspektiv­en und Hoffnungen“, so Hafer.

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