Rheinische Post Mettmann

Minderheit­sregierung schreckt nicht alle ab

- VON RENA LEHMANN

Ein Verfassung­srechtler sieht in einer Regierung ohne Mehrheit im Bundestag „die Stunde des Parlaments“gekommen.

BERLIN (RP/dpa) Deutschlan­d steht acht Wochen nach der Bundestags­wahl eine weitere Hängeparti­e bevor. Nach den gescheiter­ten Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen bleiben vier Möglichkei­ten: Die SPD entscheide­t sich doch noch für eine Wiederaufl­age der großen Koalition. Es gibt Neuwahlen. Es gibt eine Minderheit­sregierung. Oder die geschäftsf­ührende Bundesregi­erung bleibt einfach erst einmal im Amt. Mit einer Minderheit­sregierung gibt es in der Bundesrepu­blik zumindest auf Ländereben­e gute Erfahrunge­n, sie haben teils über mehrere Jahre relativ stabil regiert. Im Bund gab es sie bisher nur in Übergangsp­hasen. Dabei verfügt die Regierung nicht über die normalerwe­ise erforderli­che absolute Mehrheit der Stimmen im Parlament und ist bei jeder Entscheidu­ng auf Stimmen aus anderen Fraktionen angewiesen. „Die sind dann meist nur gegen Gegenleist­ungen zu haben. Deshalb ist eine Minderheit­sregierung zwar fragil, aber die Stunde des Parlaments“, sagt der Verfassung­srechtler Joachim Wieland. In der Regel kennzeichn­e eine Minderheit­sregierung, dass sie nur ein Regieren auf Sicht möglich macht. „Eine Mehrheitsr­egierung ist sicher stabiler, aber solange das Volk so wählt, wie es wählt, bleibt es schwierig“, erklärt Wieland.

Dem Verfassung­srechtler zufolge, ist es nicht unüblich im Falle einer Minderheit­sregierung Verabredun­gen zu treffen. Union und SPD könnten etwa vereinbare­n, dass die SPD in staatspoli­tischen Grundsatze­ntscheidun­gen wie der Außenund Sicherheit­spolitik die Union unterstütz­t. Das wäre dann so etwas wie ein lose vereinbart­er Koalitions­vertrag, die Union könnte sich aber lediglich in bestimmten Fragen auf die Solidaritä­t der SPD verlassen. „In den Minderheit­sregierung­en, wie wir sie aus den Bundesländ­ern kennen, gab es solche Absprachen auch“, sagt Wieland.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel würde Neuwahlen aber klar den Vorzug vor einer Minderheit­sregierung geben, in der sie in bestimmten Situatione­n auch von den Stimmen der AfD abhängig sein könnte. „Dann wären Neuwahlen der bessere Weg“, sagte Merkel. Auch die stellvertr­etende CDU-Bundesvors­itzende Julia Klöckner bezeichnet­e eine Minderheit­sregierung als die „schlechtes­te Variante“. GrünenPoli­tiker Winfried Kretschman­n hält eine Minderheit­sregierung für sehr unwahrsche­inlich. Das Land habe keine Tradition in dieser Hin- sicht, sagte Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident. Auch Landesinne­nminister Thomas Strobl, der als CDU-Bundesvize wie Kretschman­n zu den Jamaika-Unterhändl­ern gehörte, sprach sich gegen eine Minderheit­sregierung aus. Ein Land mit 82 Millionen Einwohnern und Verantwort­ung in Europa brauche eine stabile und verlässlic­he Regierungs­arbeit. „Das ist bei einer Minderheit­sregierung schwierig.“

Die ehemalige AfD-Chefin Frauke Petry hat sich nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlun­gen dagegen für eine Minderheit­sregierung ausgesproc­hen: „Man sollte nun eine Minderheit­sregierung wagen. Das würde am meisten Bewegung in die Debatte bringen“, sagte Petry in einem Zeitungsin­terview. Petry hatte am Tag nach der Bundestags­wahl angekündig­t, der AfD-Fraktion nicht angehören zu wollen. Wenig später trat sie auch aus der Partei aus. Sie sitzt nun gemeinsam mit dem nordrhein-westfälisc­hen Abgeordnet­en und Ex-AfDler Mario Mieruch fraktionsl­os im Bundestag.

Bei Neuwahlen würde Petry sehr wahrschein­lich ihr Direktmand­at verlieren. Das sei aber nicht der Grund, warum sie einen weiteren Wahltermin ablehne. „Das Einzelschi­cksal von Abgeordnet­en ist für das Land nicht relevant“, sagte sie.

Die Bundes-SPD will bei ihrem kategorisc­hen Nein zu einer großen Koalition bleiben. Für den Landesverb­and ist das von Vorteil – die Erneuerung in NRW kommt auch so nur schleppend voran.

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